Hamburg. Bis heute relevant: John Neumeiers Choreografie aus Stuttgart ist zu Gast bei den Hamburger Balletttagen.
Nicht wenige Tanzfans meinen, dass „Die Kameliendame“ das wichtigste Werk des Hamburger Ballettintendanten John Neumeier ist. Und tatsächlich ist die Choreografie, uraufgeführt 1978 in Stuttgart mit Marcia Haydée und Egon Madsen in den Hauptrollen, heute im Repertoire der weltweit wichtigsten Kompanien zu finden, in Hamburg hatte das Stück 1981 Premiere. Montag und Dienstag war die Stuttgarter Urfassung im Rahmen der Hamburger Balletttage zu Gast, bei der ersten von zwei Aufführungen mit Elisa Badenes als schwindsüchtiger Kurtisane Marguerite Gautier und Friedemann Vogel als unglücklich in sie verliebtem Armand Duval.
Und tatsächlich spürt man sofort den Reiz, den dieses Ballett seit 45 Jahren auf das Publikum ausübt. 1978 war Neumeier noch ein Nachwuchschoreograf, der vorgeblich die Formensprache des klassischen Repertoires bediente. „Die Kameliendame“ ist ein Handlungsballett nach dem gleichnamigen Roman von Alexandre Dumas, mit Spitzentanz, ausgiebig zelebrierten Pas de deux, sorgfältig ausinszenierten Gruppenszenen. Aber Neumeier baut eine Ebene ein, die etwas hinter der perfekten Ästhetik ahnen lässt.
„Die Kameliendame“: Neumeier erweist sich schon 1978 als großer Erzähler
Wenn Badenes auf Spitze tanzt, dann ist das anmutig, aber sie deutet auch einen Hauch von Anstrengung an, von Schmerz – dieser Tanz ist Arbeit, und das Lächeln der Tänzerin kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Marguerite ein kranker Mensch ist, der die Anmut nur performt. Und dass Vogel seine Rolle zwar einfühlsam darstellt, in den Sprüngen und Pirouetten aber überraschend grob wirkt, liegt natürlich nicht daran, dass er die Technik nicht beherrschen würde, es ist ein Hinweis darauf, dass sein Armand als Liebender sich nicht zurechtfindet in einer Welt aus formalisierten Bewegungen und strengen Flirts.
Neumeier also erweist sich schon 1978 als großer Erzähler, der eine komplexe Handlung einzig mit den Mitteln des Tanzes zu fassen weiß. Und weil er in Jürgen Roses Ausstattung, die prächtige, historische Kostüme mit einer so realistischen wie minimalistischen Bühne kombiniert, mehrere Zeitebenen übereinanderschichten kann, erzählt der Abend auch etwas über verschiedene Theaterwelten: Gespielt wird auf einer Gegenwartsbühne, auf der der Nachlass Marguerites versteigert wird, hinter dieser liegt aber eine Bühne der Erinnerung, auf der die Liebesgeschichte zwischen Marguerite und Armand stattfindet – und als ob das nicht genug wäre, gibt es sogar noch eine dritte Bühne, eine Theaterbühne, auf der sich das erste Kennenlernen der Liebenden bei einer Aufführung von „Manon Lescaut“ spiegelt. Ballett im Ballett, raffiniert!
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„Die Kameliendame“: Gegenüberstellung alter und neuer Männlichkeit
Ganz gegenwärtig lässt sich „Die Kameliendame“ auch als Gegenüberstellung alter und neuer Männlichkeit interpretieren, wenn nämlich Armands Vater (Jason Reilly) eine starre Souveränität darstellt und dabei der Emotionalität seines Sohnes nichts entgegenzusetzen weiß. Dass sich Marguerites Erkrankung als Zusammendenken von Tod und Sexualität auch auf die nicht zuletzt in der Schönheit der Ballettwelt wütende HIV-Epidemie beziehen lässt, konnte Neumeier 1978 natürlich noch nicht wissen. Aber es ist ein Hinweis darauf, wie viele Interpretationsmöglichkeiten dieses kluge, bis heute relevante Stück einem bietet.