Hamburg. Sasha Waltz & Guests stellen auf Kampnagel die Choreografie „In C“ vor. Eigentlich ist es ein Stück mit durchaus ernstem Hintergrund.

Glutrot leuchtet die rückwärtige Bühnenwand. Schatten versammeln sich davor. Sie laufen von einer Position zur nächsten. Stehen mal zu zweit, zu dritt, zu viert. Noch vorsichtig sich vortastend. Auf einmal kreisen sie mit der Schulter, zucken mit dem Kopf. Das Licht auf der Bühne wird immer heller und heller.

Die Arme und Beine werden immer raumgreifender. Ausladende Bewegungen mit gestreckten Armen, Sprüngen und Drehungen gesellen sich hinzu. Bis man auf einmal ein geradezu frühlingshaft beschwingtes Tableau vor sich sieht.

Kampnagel: Sasha Waltz & Guests zeigen hochklassigen Tanz

Sasha Waltz & Guests sind zurück auf der großen Kampnagel-Bühne. Die Berliner Choreografin und ihre Compagnie präsentieren ihre Arbeit „In C“, die hochklassigen zeitgenössischen Tanz, aber auch eine bemerkenswerte Geschichte mitbringt. Denn „In C“ entstand während der Pandemie. Als Kontakt- und Abstandsgebote herrschten und sich der Tanz wie vieles andere auch, in die digitalen Räume verlagerte.

Dort entstanden 53 Bewegungsfiguren, die jede Tänzerin und jeder Tänzer für sich allein einstudierte. Sie korrelieren mit der Musik, der heterophonen Komposition „In C“ des US-Komponisten Terry Riley, die er 1964 schuf. Das Stück ist ein frühes Werk der Minimal Music, die sich im Tanz nicht erst seit den Avantgarde-Anfängen einer Choreografin wie Lucinda Childs großer Beliebtheit erfreut.

Rhythmische Verschiebungen sind erwünscht

„In C“ huldigt dem Prinzip der offenen Form und besteht aus 53 Phrasen. Jeder Musiker kann diese so häufig wiederholen, wie er möchte. Rhythmische Verschiebungen sind dabei ebenso erwünscht wie Überlagerungen. Auch die Instrumente für die Interpretation sind frei wählbar, so hat es der Komponist bestimmt. Hier ist es ein schöner, satter Sound, aus Blasinstrumenten, Glockenklängen, Vibrafon und auch mal einer E-Gitarre.

Man könnte das ständige Wogen und Kreiseln bald als enervierend empfinden, doch gibt es einem die Möglichkeit, sich einzulassen auf den Rhythmus der Tanzenden. Und in eine Art Trance zu geraten. Die Vorteile der Minimal Music für den Tanz liegen dabei auf der Hand: Sie bietet den größtmöglichen Freiraum für Gesten in vollendeter Abstraktion.

Immer wieder huscht ein Lächeln über die Gesichter der Tanzenden

Die elf Tanzenden auf der Kampnagel-Bühne bewegen sich dazu mal in einer Art zuckendem Gänsemarsch-Trab vorwärts und vollführen dabei eine Handchoreografie. Dann wieder landen sie aus einem Sprung im Liegen am Boden, bevor sie mit einer Drehung und einem weiteren Sprung wieder aufstehen.

Die Bewegungen verbinden sich mit den auf- und abwogenden Klängen zu einem verblüffend organischen Gewebe, in dem sie sich immer wieder neu überkreuzen, anders wiederholen, die Weite des Raumes immer neu nutzen, vor- und zurückschreiten, kreiseln und sich dabei stets mit wechselnden Partnern auch mal zu einem synchronen Motiv zusammentun. In dieser Variantenvielfalt entsteht ein regelrechter Rausch aus Abstraktion und Repetition.

Manchmal kommt es zu Ansätzen von Berührungen. Je weiter die Performance voranschreitet, umso häufiger huscht auch mal ein Lächeln über das Gesicht der Tänzerinnen und Tänzer, die sich um wirklich herausragende Persönlichkeiten wie Yuya Fujinami, Alessandra Defazio, Aladino Rivera Blanca oder Ageliki Gouvi gruppieren.

Eigentlich ist „In C“ ein Stück mit ernstem Hintergrund

Lichtdesigner Olaf Danilsen lässt den Bühnen-Hintergrund derweil in den apartesten Frühlingsfarben von Rosa zu Blau und Grün wechseln. Gleichermaßen fröhlich und positiv wirken auch die von Jasmin Lepore kreierten luftigen, einfarbigen Tops und mal kurzen, mal langen Hosen der Tanzenden.

Doch so leicht und fluffig der Abend daherkommt, eigentlich ist „In C“ ein Stück mit durchaus ernstem Hintergrund. Es geht um nicht weniger als das Prinzip der Demokratie. Denn Sasha Waltz begreift die Tanzenden als Teil einer Gruppe. Und nicht als Individuen, die sich in einer Gruppe formieren.

Waltz und ihre Tänzerinnen und Tänzer deklinieren hinter all der scheinbar so federleichten Eleganz und Anmut der Körper und Bewegungen Fragen von Gewicht durch: Wie organisieren sich die Tanzenden im Raum mit den Anderen? Wie nehmen sie sich ihren Raum? Wo nehmen sie Rücksicht?

Es sind zentrale Gedanken zum Verhältnis von individueller Freiheit und Kollektiv, die in Zeiten, in denen die Demokratie vielerorts ins Straucheln geraten ist, von Dringlichkeit sind. Manches Mal verpassen die Tänzerinnen und Tänzer einander nur um Haaresbreite, doch die drohenden Kollisionen lösen sich sogleich wieder in Harmonie auf.

Es ist verblüffend, wie gut das Tableau funktioniert, wie intuitiv die Tanzenden aufeinander achten. Man könnte diese Wiederholungen, irgendwann auch monoton finden, doch dann geschieht stets etwas Unerwartetes, das Licht wandelt sich oder eine neue Bewegung wird erkennbar, eine neue Gruppe findet sich.

Auf Kampnagel geht es um existenzielle Fragen

Die Perfektionistin Sasha Waltz ist als Choreografin wahrlich nicht bekannt dafür, irgendetwas dem Zufall zu überlassen. Insofern ist „In C“ für sie eine eher ungewöhnliche Arbeit. Aber auch hier handelt es sich letztlich um eine sehr geordnete Form der Improvisation.

Waltz erhebt den Zufall, die Freiheit zur Leitlinie – auf Basis von sehr präzisen Strukturprinzipien. So entsteht ein skizzenhafter Abend, in dem sich im Grunde eine Vielzahl Miniaturen aneinanderfügen. Sie erzählen keine Handlung, aber konfrontieren den Betrachter doch in einer guten Stunde mit den existenziellen Fragen des Zusammenlebens.

Sasha Waltz & Guests: „In C“ bis 5.2., jeweils 20.00, Kampnagel; Karten und Infos unter kampnagel.de