Hamburg/Berlin. Romeo Castellucci gastiert bei dem Theaterfestival in Hambur mit „Bros“ – die Akteure mussten eine Verpflichtung unterzeichen.

Der italienische Theater- und Opernregisseur Romeo Castellucci zählt zu den Großkünstlern unserer Zeit. Das Studium der Malerei und des Bühnenbildes prägt die bildgewaltigen ­Theaterperformances des 1960 in Cesena geborenen Castellucci bis heute. Mit seiner aktuellen Produktion „Bros“ gastiert er am 1. und 2. Februar bei den Lessingtagen im Thalia Theater. Da passt es gut, dass er derzeit an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin die nächste Opernpremiere probt.

Castellucci – von Kopf bis Fuß in schwarze Existenzialisten-Mode gehüllt – wirkt im Gegensatz zu seiner von einer Aura des Heiligen umgebenen Kunst sehr zugewandt, beinahe heiter. Eine Begegnung.

Herr Castellucci, ist Regie führen für Sie dasselbe wie ein Bild zu malen?

Romeo Castellucci: Ich glaube ja. Meine erste Annäherung geht über Bilder und Sounds. Diesen Swimmingpool, in den der Zuschauer eintaucht als Atmosphäre. Erst dann kommt der Text. Generell würde ich sagen, es geht um Bilder. Meine Studien kommen aus der Kunstgeschichte. Es ist ganz natürlich für mich, dem Strom der Bilder zu folgen.

Vertrauen Sie weniger dem Wort als dem Körper auf der Bühne?

Ja. Ich denke, das ist das Schicksal des Theaters. Theater ist die Kunst des Fleisches. Nicht der zweite Ast der Literatur. Es gibt zuerst eine Erscheinung, das ist der Körper. Das Theater ist die Kunst des Kontakts zwischen zwei Körpern, dem des Zuschauers und dem des Schauspielers. Es ist eine Begegnung. Um ein anderes Objekt zu formen. Mit Haut. Man kann Theater auch als Illustration eines Textes verstehen. Aber das entspricht nicht meinem Interesse. Ich habe auch an klassischen Texten gearbeitet wie „Julius Caesar“ oder „Orestie“. Aber dann müssen wir graben, um den Ursprungsgrund zu finden. Gegenüber einem Text stellt sich die Frage, was bedeute ich vor diesem Text. Er liest mich, den Zuschauer.

Ihre Produktion „Bros“ ist nun eine bildgewaltige Inszenierung über die Mechanismen der Macht.

Ein Jahr vor der Covid-Pandemie während der Gelbwesten-Aufstände habe ich sechs Wochen lang an der Pariser Oper gearbeitet. Meine Wohnung war jeden Tag von Hunderten Polizisten umzingelt. Jeden Tag haben sie mich angehalten. Ich habe ihre Macht gespürt. Die Macht der Uniform. Es war ein anthropologischer Eindruck. Die Performance ist eine Reaktion auf diese Angst. Aber es ist keine Kritik an der Polizei. Das wäre zu einfach. Am Ende ist es ein Porträt von uns selbst. Wie folgen wir Anweisungen eines unsichtbaren Gesetzes, einer unsichtbaren Technologie, ohne zu wissen wohin?

Regisseur Romeo Castellucci
Regisseur Romeo Castellucci © picture alliance / BARBARA GINDL / APA / picturedesk.com | Barbara Gindl

Die Performance ist auch selbst ein Manifest der Mechanismen der Macht. Die mehr als 20 Schauspieler – allesamt Amateure – werden über ein Headset dirigiert und mussten sich zuvor schriftlich verpflichten, allen Anweisungen Folge zu leisten – egal welchen. Welchen Effekt hat das?

Ich habe eine Matrix aus Befehlen geschaffen. Beim ersten Testlauf in meiner Heimatstadt war das Ergebnis überraschend. Die Performer gehorchten der Matrix. Sie gehorchten mir. Es erinnert mich an Beckett. Der Schauspieler ist wie ein Gefangener. Es gab nicht einen Fehler im System. Wir verbringen einige Stunden am Nachmittag vor der Aufführung mit den Performenden. Zeigen ihnen, wie das Spiel funktioniert. Wir erläutern die Koordinaten, aber dann folgen sie. Da ist keine Zeit für Wahl oder Bewusstsein. Der Befehl ist immer zugleich die Handlung. Die Form ist der einzige Weg, den Körper des Zuschauers zu berühren. Es ist nicht der Diskurs oder die Absicht. Ich erfinde nichts. Niemals. Ich stelle das auf die Bühne, was schon existiert.

Gibt es eine Moral in der Manifestation von Recht und Gesetz, ausgeführt durch die Polizei?

Die Matrix repräsentiert die Moral. Es ist aber unmoralisch, das Bewusstsein auszuschalten. Wir arbeiten mit den Menschen wie Maschinen. Sie geben die Person auf, werden zu reiner Funktion, verlieren ihr Menschsein. Ich arbeite als Künstler ohne Absicht, die Wahl liegt immer beim Zuschauer. Als Bürger kann ich sagen, dass es beunruhigend ist, wie sehr die Technologie eine unsichtbare Diktatur ausübt, in der Art, wie sie Menschen verbindet. Das ist furchteinflößend. Wir ordnen uns sehr gerne und leicht unter.

Manche nennen Ihre Arbeiten provokant. Sie haben einen Stier auf die Bühne gestellt, ein andermal Autos aus dem Bühnenhimmel herabfallen lassen. Vor einigen Jahren haben Sie vorgeführt, wie ein junger Mann seinen dementen, inkontinenten Vater pflegt. Warum sind diese Bilder notwendig?

Es ist nicht meine Wahl. Wenn man an einer Idee arbeitet, an einer Mythologie, kommen die Bilder. Ich hasse das Wort Provokation. Die ist überall. In der Werbung. In den Medien. Überall ist Ironie. Das Fernsehen ist voll mit diesem Mist. Wir verlieren unsere menschliche Würde. Es ist keine Provokation, aber ein Skandal. Abgeleitet vom griechischen Wort ‚Skandalon‘. Wie ein Stein auf dem Weg, den man mit dem Fuß wegstößt, um sich neu zu sortieren. Es geht viel tiefer. Es ist kein Witz, keine Kuriosität. Es ist ein Gebet.

Ihren Zugang zu Theater beschreiben Sie nicht als akademisch, steigen aber tief, philosophisch in Ihre Themen ein. Was ist das oberste Ziel?

Die Psychoanalyse von Jacques Lacan hat einen starken Einfluss auf mich. Die Formen sprechen. Sie sind universell. Von Anfang an. Meine Kunst ist politisch, aber nicht in dem Sinn, dass ich die Realität verändern möchte. Kunst kann die Realität nicht verändern. Aber die Wurzeln jeder Politik liegen dort. Jeder Mensch allein zu Hause ist der Beginn politischen Bewusstseins.

Sie führen seit 40 Jahren Regie. Wie würden Sie die Verlagerung Ihrer Interessen beschreiben, wenn man frühere Werke betrachtet, wie etwa „Genesi. From the museum of sleep“, das 1999 auch in Hamburg zu sehen war?

Ich möchte mich selbst in einen Widerspruch stellen. Das Theater ist kein sicherer Ort. Es ist kein Zuhause. Wir gehen auf die Bühne immer wieder als Fremde. Wir haben die Notwendigkeit, eine neue Sprache zu finden, um alles immer neu zu erfinden, auch die Notwendigkeit einer neuen Sprache. Es ist nicht immer möglich. Ich gebe die Schwäche zu. Ich mag die Menschen nicht, die sich sicher sind. Die Scham auf der Bühne nicht zugeben. Für mich ist es wie ein heiliger Rauch. Wir sind zerbrechlich, ausgeliefert, immer nackt auf der Bühne. Ohne Rüstung, ohne den abscheulichen Schutz des Könnens.

Sie haben einmal gesagt, Theater muss wie körperlicher Schmerz sein. Gilt das noch?

Ja, man sollte ein Gefühl von Gefahr spüren, eine Elektrizität in der Luft. Es ist ein Kampf gegen die Wirklichkeit. Man spürt die Gefahr. Theater ist die einzige künstlerische Sprache, die dicht am wirklichen Leben ist. Das Leben in der Tiefe reflektiert. Sie ist aus Körpern gemacht. Es ist die stärkste künstlerische Sprache, weil sie dem Leben selbst ähnelt.

Neben Malerei ist das Kino – etwa das des Regisseurs Robert Bresson – Ihr zentraler Einfluss. Was haben Sie darin gefunden?

Die Macht, ein Bild zu definieren. Im Theater haben wir viele Zuschauer, im Kino einen. Es gibt nur das Auge der Kamera. Das ist sehr faszinierend für mich. Man hat totale Kontrolle über das Bild. Es ist für immer, wie eine ägyptische Mumie. Im Theater sind wir in einem Saal an das Objekt gebunden. Mich fasziniert ein eher formales, kaltes Kino – aber eines, das auch verbrennen kann.

Musik spielt stets eine zentrale Rolle in Ihrem Werk. Welche Art von Musik spricht zu Ihnen und welche haben Sie für „Bros“ ausgewählt?

Musik ist der Mississippi. Ein großer Strom, der schwimmende Bilder transportiert. Musik ist für mich auch Sound, Geräusch, sogar Lärm. Ich habe Wagners Musiktheater intensiv studiert. Musik produziert ein Gefühl. Direkt. Die Bilder transportieren Informationen. Ich mag diese Macht der Musik, die ohne Worte zu dir spricht. Es ist eine andere Art zu kommunizieren. Der Sound ist niemals ein Soundtrack oder eine Dekoration. In „Bros“ besteht der Sound vor allem in einer gesplitteten Aufnahme der Show. Man bekommt ein Gefühl von Echo. Man kann verschiedene Tore der Wahrnehmung aufstoßen, um Löcher im Fiktionalen zu öffnen.

Sie haben sich im Angesicht des Ukraine-Krieges für russische Künstler eingesetzt – wobei Sie gleichzeitig den wirtschaftlichen Boykott befürworten. Ist Kunst immer politisch?

Ja, Kunst ist immer politisch. Nicht, weil ich protestiere. Ich glaube nicht an Aktivismus im Theater. Kunst bringt Zweifel, Gedanken, Bewusstsein hervor. Es ist wichtig, damit an tyrannische Orte zu gehen.

Sie kommen aus einem katholischen Land, bezeichnen sich aber selbst nicht als gläubig. haben Sie Hoffnung?

Für Spinoza war Hoffnung die andere Seite der Verzweiflung. Stattdessen muss man eigenverantwortlich handeln. Eine Wahl treffen. Ich mag das Wort nicht. Weil man immer von etwas oder jemandem abhängt, einem Retter.

Romeo Castellucci/Societas: „Bros“ 1./2. Februar, 20 Uhr, ab 16 Jahren, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de