Hamburg. Thalia Gaußstraße zeigte das dokumentarische Theaterstück als Gastspiel des Schauspiels Frankfurt. Nuran David Calis zurück in Hamburg.
Der NSU, der „Nationalsozialistische Untergrund“, war eine rechtsextreme Terrorgruppe, die zwischen 1999 und 2011 mordend durch die Bundesrepublik zog. Entdeckt wurde die Gruppe 2011 erst nach dem Suizid ihrer Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sowie der Festnahme der dritten Täterin Beate Zschäpe. Zschäpe wurde später zu lebenslanger Haft verurteilt, kurz nach dem Urteil tauchten allerdings Drohbriefe auf, unterzeichnet mit dem Kürzel „NSU 2.0“ – was auf ein zumindest ideologisches Weiterbestehen der Gruppe hindeutet.
NSU 2.0 – dokumentarisches Theater am Thalia Gaußstraße
Nuran David Calis’ dokumentarisches Theaterstück „NSU 2.0“ eröffnet als Gastspiel vom Schauspiel Frankfurt das letzte Wochenende des transkulturellen Festivals „Nachbarşchaften – Komşuluklar“ am Thalia in der Gaußstraße. Hier geht es weniger um den identitätspolitischen Zugriff auf die Migrationsgesellschaft, der den Festivalbeginn prägte, sondern um schlichte Wut: Wir konnte es sein, dass über zwölf Jahre Morde verübt wurden, fast ausschließlich an Menschen mit Migrationshintergrund, und die Polizei ignorierte konsequent Hinweise auf eine rechte Täterschaft?
Und wie konnte es sein, dass die Spuren bei den „NSU 2.0“-Drohbriefen in hessische Polizeiwachen führten? Der gut eineinhalbstündige Abend hangelt sich akribisch an Verhörprotokollen, Gerichtsakten und Interviewpassagen entlang, und man versteht, wie frustriert Regisseur Calis gewesen sein muss, als er an dem Stück arbeitete.
Das Problem des Abends ist auch sein Pluspunkt
Inhaltlich ist das Projekt in drei Kapitel unterteilt, die nach Schauplätzen rechten Terrors benannt sind: „Eisenach“, die Stadt, in der sich Mundlos und Böhnhardt töteten, „Kassel“, wo der Neonazi Stephan Ernst 2019 den Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) umbrachte, nachdem dieser sich für die Aufnahme von Geflüchteten stark gemacht hatte, „Hanau“, wo der Rechtsextremist Tobias R. 2020 neun Bürger mit Migrationshintergrund, seine Mutter und schließlich sich selbst erschoss. Eine lange Reihe rechtsextremer Gewalt, die hier nüchtern und analytisch referiert wird.
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Das Problem des Abends: Er erzählt eigentlich nichts Neues, die Fakten sind längst bekannt. Der Pluspunkt des Abends: Er erzählt eigentlich nichts Neues, aber er macht einem schmerzhaft bewusst, wie resigniert man die bekannten Fakten hingenommen hat.
Unterschwellig, in leichten Andeutungen der Schauspieler Torsten Flassig, Lotte Schubert und Mark Tumba sowie in kurzen Videoeinspielern von Politikern wie Cem Özdemir (Grüne) oder Janine Wissler (Die Linke) wird klar, wo Calis die theoretische Basis für die Gewalt sieht: im Chauvinismus der AfD, im Wohlstandskonservatismus des damaligen Innenministers Horst Seehofer (CSU), der sich „bis zur letzten Patrone“ gegen eine Einwanderung in die Sozialsysteme wehren wollte. Und man bekommt langsam ein schlechtes Gewissen, dass man angesichts solcher Entgleisungen nicht wirklich wütend ist. Ist halt so. Bis irgendwann wieder ein Tobias R. zur Waffe greift.
Geschickt arrangiert, aber im Grunde nicht besonders spannend
Als Theater ist „NSU 2.0“ geschickt arrangiert, im Grunde aber nicht besonders spannend: Anne Ehrlichs flexible Bühne stellt mal eine Studiosituation dar, mal eine Polizeiwache, mal ein holzgetäfeltes Büro, aus dem heraus die Darsteller Rechercheergebnisse ins Publikum verlesen. „Wir sind Deutsche, wir sind eine Gesellschaft“ – wenn der dunkelhäutige Tumba so einen Satz sagt, dann hat das auch eine politische Dimension.
Aber natürlich kann man das als Agitprop-Theater abtun, natürlich kann man konstatieren, dass das politische Theater doch eigentlich ästhetisch weiter sei. Jedoch: Als Wiedersehen mit einem Regisseur, der seine erfolgreiche Theaterkarriere 2004 am Thalia begonnen hatte, ist der Abend dann doch interessant.
NSU 2.0: Die Wut bei Regisseur Calis ist noch da
Weil man merkt, dass die Wut, mit der Calis 2004 sein Stück „Dog Eat Dog (Raus aus Baumheide)“ inszeniert hatte, immer noch da ist. Nur ist sie heute weniger jugendlich drängend als vielmehr reflektiert: Wut darüber, dass rechte Kontinuitäten in der Gesellschaft kein Thema sind, Wut darüber, dass man sich als Deutscher mit Migrationshintergrund nicht unbedingt auf die Gesetzeshüter verlassen sollte. Immer wieder wird betont, dass bei den Morden in Hanau der Notruf bei der Polizei nicht besetzt gewesen sei, und dann wird Darstellerin Schubert zum Schluss doch noch laut. Weil das ein Skandal ist, über den man sich tatsächlich aufregen darf.
„Nachbarşchaften – Komşuluklar“ noch bis 6. November, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Programm: www.thalia-theater.de