Hamburg. TV-Star Lilli Fichtner überzeugt zum Saisonstart der Kammerspiele im Drama „Die Laborantin“. Ein Spiel um genetische Informationen.

Wenn eine Mitarbeiterin mit einer Palette Blutproben in einem Labor für Humangenetik stolpert, ist nicht automatisch sofort Hilfe zur Stelle. Bea hat jedoch das Glück, dass Aaron durch die Tür tritt. Oder ist es Zufall, Schicksal etwa? Und das alles im Digitalzeitalter, in dem so vieles wissenschaftlich und technisch vorherbestimmt ist – bis hin zur Suche nach dem perfekten Wesen, dem perfekten Partner.

„Die Laborantin“ heißt das Stück der britischen Autorin Ella Road (30), sie gilt nach der Uraufführung 2018 unter dem Originaltitel „The Phlebotomist“ in ihrer Heimat als Shootingstar der Theaterszene. Im Vorjahr war „Die Laborantin“ hierzulande bereits das meistgespielte neue Stück in deutscher Sprache. Am Sonntagabend nun eröffnete Roads Dystopie die 77. Spielzeit der Hamburger Kammerspiele, mit dem TV-Jungstar Lilli Fichtner in der Titelrolle.

Theater Hamburg: Menschen werden nach Blutwerten beurteilt

Dabei ist Ella Roads Thema längst Teil unseres Lebens. Ihre Geschichte spielt in einer Welt, in der Menschen nach ihren Blutwerten in einem Punktesystem sortiert werden. „Die Laborantin“ erzählt von einer Gesellschaft, die von den nega­tiven Folgen der Entschlüsselung des menschlichen Genoms beherrscht wird. Jedes Individuum wird nach seinen genetischen Anlagen bewertet und klassi­fiziert. Schizophrenie, Leberschwäche oder Alzheimer? Bedeutet massive Punktabzüge. Wem nur leichte Erkrankungen drohen, der oder die steht ganz oben.

Liebe, Karriere und Gesundheit sind programmiert, wenn man eine „1“ (schlecht) oder eine „10“ („high rate“) hat – China lässt grüßen: Dort ist ein derartiges Punktesystem bereits beängstigende Realität, aber auch in vielen nichttotalitären Ländern ist eine Dating-App mit Blut-Rating bereits Teil der Match-Praxis unter jungen Menschen. Gute Gene, schlechte Gene? Heute Teil eines Selbstoptimierungswahns.

Drama ist als Liebesgeschichte angelegt

„Wie ist denn dein Wert?“, fragt Aaron (Flavio Kiener) die Laborantin Bea gleich mal forsch im Labor. Ihre „7,1“ weckt sein Interesse, und da er, offenbar ein angehender Anwalt aus gutem Haus, sogar eine „8,9“ vorweisen kann, schreiten die Szenen einer Annäherung voran.

Autorin Road hat ihr Drama als Liebesgeschichte angelegt. Als die systemtreue Bea jedoch Blutwerte ihrer systemkritischen Freundin Char (Julia Berchtold) fälscht, weil die dem Arbeitgeber ihre „Huntington-Krankheit“ und ihren Wert von nur „2,2“ verheimlichen will, entwickelt sich daraus für die Laborantin ein lukrativer Nebenjob.

Fichtner verleiht ihrer Rolle Tiefgang

Lilli Fichtner, als Schauspielerin zuletzt in der mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichneten „Wannseekonferenz“ und in der TV-Serie „Babylon Berlin“ präsent, verleiht ihrer Bea bei ihrem Hamburger Bühnendebüt im Laufe der Story mehr und mehr Tiefgang. Anfangs getrieben von der Sehnsucht nach einem anspruchsvollen Leben mit dem (Ehe-)Partner spielt sie die ganze emotionale Palette aus, vom jugendlich-unbeschwertem Umgang mit der Täuschung bis zum späten Erkennen, welche Tragik ihr Leben durchzieht, wenn sich ihr langgehegter Kinderwunsch erfüllt. Sie verzweifelt, wimmert, schreit ob einer Welt, in der es auch „Abtreibung nach der Geburt“ gibt.

Auch Aaron, der mehr als ein kleines Geheimnis in sich trägt, zweifelt letztlich daran, ob man Menschen nur nach einer Zahl bewerten kann.: „Ich bin kein Ratist“, versichert er Ehefrau Bea. Flavio Kiener, zuletzt im Altonaer Theater in mehreren Rollen in der Joachim-Meyerhoff-Adaption „Amerika“ zu erleben, ist in „Die Laborantin“ auch der hyperaktive Anwalt abzunehmen. Julia Berchtold holt aus ihrer Nebenrolle als Beas upgeratete Freundin Char mehr als anfangs erwartet heraus, da sie ihre Figur trotz des Wissens um die schlechte Gen-Prognose am Stock gehend zu einem aktiven Leben treibt. Die drei Jung-Schauspieler tauchen zudem mehrmals in anderen Rollen in eingespielten Videos auf, welche die dramatische Szenerie auflockern sollen – eine Masche, die sich jedoch mit zunehmender Spieldauer abnutzt.

Theater Hamburg: Lilli Fichtner ist der Star

Gilt weniger für Alexander Klages als vierten Schauspieler. Als skurriler „High Rate“-Hausmeister im Weißkittel taucht der Mittfünfziger im und am Labor mehrmals unvermittelt auf, philosophiert über das System und möchte den jungen Leuten gute Ratschläge erteilen. Regisseur Sewan Latchinian, der künstlerische Leiter der Kammerspiele, hat die Schauspieler einfühlsam geführt, setzt das schwierige Thema recht werkgetreu um, lässt so aber keine Anspielungen auf andere gesundheitspolitische Themen wie etwa Impfungen zu.

Finaler Beifall indes auch für ihn und sein Regieteam mit Ausstatterin Birte Voss. Ihre klinische Labor-Kulisse mit weißen Kacheln steht eher für Überraschungen, dient im Verlauf des fast zweieinhalbstündigen Abends auch als Apartment des Paares oder als Londoner Underground-Station. Der lauteste und längste Beifall des Premierenpublikums in den nur zu etwa zwei Drittel gefüllten Kammerspielen aber gilt Lilli Fichtner für ihr Spiel. Und das völlig zu Recht.

„Die Laborantin“ wieder Do 22.9., 19.30, bis 22.10., Kammerspiele (U Hallerstraße), Hartungstr. 9, Karten zu 24,- bis 43,-: T. 413 34 40; www.hamburger-kammerspiele.de