Bayreuth. Ein Unfall, ein toller Ersatz-Wotan und herausragende Stimmen: Der zweite Abend des neuen „Ring“ war ausgesprochen sonderbar.

Ob ein Wotan-Fluch auf dem Bayreuther „Ring“ liegt, so weit soll man wohl nicht orakeln. Aber Michael Kupfer-Radecky, jetzt schon der fünfte Götterchef dieser Produktion, wird den 1. August 2022 so schnell nicht vergessen. Im zweiten „Walküre“-Aufzug brach ein Eames Lounge Chair unter dem Erst-Wotan zusammen. Viele hielten das zunächst für eine weitere Pointe des zum Witzeln neigenden Regisseurs Valentin Schwarz, doch Tomasz Konieczny hatte es bei dem Unfall so schwer erwischt, dass er den Akt noch durchstand und -sang, aber für das Finale passen musste.

Der Einspringer in die Premiere erwies sich als eindeutig unproblematischer, kleiner im Format, doch deutlich prägnanter in der Verständlichkeit und der darstellerischen Eindringlichkeit, zu dieser Höchstleistung getragen auf einer Riesenwelle aus Adrenalin.

Bayreuther Festspiele: Kopfkratzen bei der "Walküre"

Verständlichkeit, nicht nur auf die gesungenen Texte bezogen – das ist ohnehin das Zauberwort und gleichzeitig der durchgängig größte Aufreger. Denn auch in der Weiterspinnung des „Rheingold“-Durcheinanders ist die gängigste Handbewegung des Publikums das kollektive Kopfkratzen, weil wieder einmal nicht klar ist, was da warum gezeigt wird und wie es gemeint ist und ob oder wann es sich das Ganze sinnstiftend fügt. Denn eigentlich war man doch gekommen, um einen „Ring“ zu sehen und zu hören, keine kuratierte Neusortierung der Zutaten.

Für Schwarz ist die an sich ziemlich geheiligte Vorlage Wagners aber eher ein Serviervorschlag, um die Geschichte umzudeuten, sie mit neuen Personenkonstellationen und Überraschungsmomenten anzureichen. Fast niemand ist gerade was oder wie er scheint oder original angelegt war.

Lise Davidsen als Sieglinde hat die größte Strahlkraft

Dass man Wagner auch wortklar über die Rampe bekommen kann, zeigen drei Fachkräfte exemplarisch: Klaus Florian Vogt, seit Jahren Festspiele-Inventar und sichere Bank, klingt auch jetzt vor allem wie Klaus Florian Vogt, kann aber auch mit etwas weniger Tenor-Licht als üblich als Siegmund gefallen. Auch Georg Zeppenfeld ist als Hunding erwartbar eine silbenscharfe Wucht.

Die größte Strahlkraft jedoch bietet Lise Davidsen als Sieglinde auf. Mit einem Druck, der für anderthalb Brünnhilden genügen könnte, schmettert sie ihre Partie fokussiert und hell strahlend über alles und jeden hinweg, als wäre das Trällern beim Waldspaziergang. Am Rande einer fast schon tragischen Fehlbesetzung entlang bewegt sich andererseits Iréne Theorin als Brünnhilde, die überreif und unleicht laut stemmt.

Wo anfangen beim großflächigen Wundern über diese „Walküre“ nur sehr, sehr frei nach Wagner? Vielleicht beim Sichtbarsten: Sieglinde, die Schwester von Siegmund, ist schon von Anfang an sehr schwanger. Eindeutig also nicht von ihm, dem seit langem getrennt gewesenen Bruder-Geliebten. Womöglich stammt dieser – hier viel zu früh geborene Siegfried – von Sieglindes ungeliebten Gatten Hunding, eher aber noch von Wotan, der Siegmund auch noch brutal an die Unterwäsche geht.

Cornelius Meister hat mehr zum Material gefunden

Dieses enorme Inszest-Chaos im Plot-Genpool wird jedenfalls in einem Podcast vom Regisseur angedeutet – den man sich aber nur erschließen kann, falls man am Tag der Premiere per Smartphone einen QR-Code im Programmheft aufruft. Die Gralssuche ist nichts dagegen.

Damit wäre mal eben das Götter-Menschen-Großfamiliengeflecht dahin, die von Wagner raffiniert verlegten Handlungsstränge zur späteren Katastrophen wären Abstellgleise. Und weil das verschärfte Petting mit Nachwuchs-Konsequenz, auf das Siegmunds „Winterstürme wichen den Wonnemond“ hinzuschmachten hat, jetzt unnötig ist, ruft die Regie jugendfreiere Kindheitserinnerungen der beiden kleinen Racker in ihren Spielzimmern ab.

Im Graben hat Dirigent Cornelius Meister inzwischen eindeutig mehr zu sich und zum Material gefunden als noch im „Rheingold“. Nicht alle Tempoveränderungen wirken organisch und geschmeidig, doch die Lust am dramatisch Erzählenden wird immer hörbarer.

Im zweiten Aufzug zeigt Schwarz einen aufgebahrten Sarg in Wotans Walhall-Villa. Da liegt, von den Walküren in überdrehten Luxusschlampen-Outfits lautstark betrauert, jene Freia, die am Ende vom „Rheingold“ als Cliffhanger mit einer Pistole hantiert hatte. Auch tot und stumm, nach ihrem Freitod als Entführungstrauma-Spätfolge, hätte sie hier eindeutig nichts mehr zu suchen. Ihren irrwitzigen Auftritt haben die Damen beim Walkürenritt, der gänzlich ausfällt, weil sie sich lieber in einer Schönheitsklinik gesichtswarten und oberweitenoptimieren lassen, anstatt tote Helden in Walhall abzuliefern.

Bayreuther Festspiele: Valentin Schwarz traut sich enorm viel

Brünnhildes stolzes Ross Grane ist inzwischen ein stummer Leibeigener mit pferdeschwanzlanger Mähne. Und die Pistole ist nach wie vor Schwarz’ Allzweckwaffe seiner Wahl. In Siegmunds Hand doubelt sie das Schwert Nothung, bei Wotan den Speer. Dass Wotan statt Hunding zum Mörder von Siegmund wird, fällt kaum noch ins Gewicht.

Schwarz traut sich enorm viel, um bis in die letzte Saalreihe Entrüstung und Enttäuschung zu produzieren. Am Ende aber findet er aber auch Mut und Muße zum Einfachen, Großen, pathetisch Aufgeladenen: der mächtige Feuerzauber, mit dem Wotan die ungehorsame Tochter Brünnhilde in Strafschlaf versetzt – weg. Wotan, ermattet von sich selbst und den hakeligen Umständen, liegt ganz ernsthaft anrührend auf dem leeren Bühnenboden; eine Kerze (kurioserweise von Gattin Fricka gebracht), mehr gibt es nicht. Den Rest muss man sich denken können. Und es könnte immer noch besser werden.