Hamburg. Nach 31 Ehejahren ein Callboy-Date. „Meine Stunden mit Leo“ ist ein wunderbares Kammerspiel: komisch, bewegend – und ziemlich sexy.

Sie treffen sich an einem neutralen Ort. In einem Hotel. Am Stadtrand, wo man sie nicht kennt. Und doch ist Nancy (Emma Thompson) stark gehemmt. Die Lehrerin ist seit Kurzem Rentnerin und seit zwei Jahren verwitwet. Aber sie hatte ihr ganzes Leben lang noch nie Sex mit einem anderen Mann als ihrem verstorbenen Gatten. Nun trifft sie sich mit Leo (Daryl McCormack), einem Callboy, den sie sich im Internet bestellt hat. Aber als der junge Mann dann vor ihr steht, wird sie immer steifer und verklemmter.

Nicht weil er ihr nicht gefallen würde. Im Gegenteil. Und er tut alles, um die Situation aufzulockern. Aber da gibt es eben sehr viel aufzulockern. Denn Leo könnte ihr Sohn sein. Und wie Nancy bald zugibt, war der Sex in ihrer 31-jährigen Ehe nicht gerade erfüllend. Ja, sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie einen Orgasmus. Und da ist noch eine andere Scham. Für ihren Körper. Für ihr Alter. Ihr Verwelken. Und auch wenn der Sexarbeiter das sogleich abstreitet, hat sie doch Angst, ihn auszubeuten. Statt also zur Sache zu kommen, redet und redet Nancy. Und plötzlich bricht alles aus ihr heraus: der Frust über ihr Leben, ihre Kinder, sich selbst.

Filmkritik: Emma Thompson verklemmt beim Callboy-Date

Das ist der Dreh- und Wendepunkt des Films „Meine Stunden mit Leo“, der am Donnerstag in die Kinos kommt. Eine Sexkomödie? Eher eine Sexhemmungskomödie. Ein klassisches Kammerspiel, das auf engstem Raum spielt. Die Kulisse bleibt fast durchgehend das nüchtern-sterile Hotelzimmer, das Personal fast ausschließlich dieses höchst gegensätzliche Paar. Für die Corona-Zeit, in der der Film entstand, ein Dreh unter besten Voraussetzungen. Auf den ersten Blick wirkt das wie eines dieser vielen, bloß abgefilmten Theaterstücke. Es ist aber ein Originalkonzept und weiß der Monotonie des Einheitsortes mit immer neuen Kameraperspektiven und Lichteinfällen zu entgehen.

Vor allem aber ist der Film eine große Bühne für seine beiden Darsteller. Für den Nachwuchsschauspieler Daryl McCormack (aus der Serie „Peaky Blinders“). Vor allem aber für seinen Star Emma Thompson. Und die lotet ihre verklemmte Figur mit jeder Faser aus. Mit vielen komischen Momenten, die diese Nancy dennoch nie der Lächerlichkeit preisgeben. Sondern immer auch ein trauriges Leben der Enthaltsamkeit und nie ausgelebten Sehnsüchte durchscheinen lassen. Was wohl gar nicht so selten ist, wie man denkt.

„Meine Stunden mit Leo“: Mehr Therapie als Date

Um das vorwegzunehmen: Ja, es kommt auch zum Sex. Damit ist nicht zu viel verraten. Denn da ist der Film noch lange nicht zu Ende. Der begnügt sich nämlich nicht mit der üblichen Frau-in-den-besten-Jahren-will-es-noch-mal-wissen-Dramaturgie. Es kommt zu einem weiteren Treffen. Und die Rollen verkehren sich. Die Kundin ist jetzt schon etwas mutiger. Fragt auch Leo nach seinem Hintergrund. Damit überschreitet sie indes die Grenze des Professionellen. Diesmal blockt Leo ab. Damit aber ist die pädagogische Ader der Lehrerin geweckt. Und wohl auch die der Mutter. Und wie sich bald herausstellt, ist auch der junge Mann keineswegs so cool und selbstsicher, wie er vorgibt.

„Meine Stunden mit Leo“ – darauf verweist der deutsche Verleihtitel des Films, der im Original „Good Luck To You, Leo Grande“ heißt – ist wie eine Therapie. Nur nicht auf der Couch, sondern im Hotelbett. Da begegnen sich zwei, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die doch eins verbindet. Letztlich sind beide einsame Herzen. Und entblößen sich voreinander. Nicht nur körperlich, sondern viel intimer: auch seelisch. Ein Sex-Date, das zur Win-win-Situation wird.

Emma Thompson als Star des Films

Das Drehbuch stammt von der britischen Comedienne Katy Brand, deren Showtitel „Katy Brand’s Big Ass Show“ und „Tittybangbang“ einen gewissen Brachialhumor erwarten ließen. Auch wenn sie sich manch derbe Pointe nicht verkneifen konnte – so gibt Leo seiner Mutter vor, er arbeite „auf einer Bohrinsel“ –, überrascht sie doch mit differenzierten Tönen rund um die Tabuthemen Wechseljahre und Körperscham. Beim Schreiben hatte sie bereits Emma Thompson im Kopf, mit der sie für den Film „Eine zauberhafte Nanny“ vor der Kamera stand. Und die sagte auch ohne zu zögern zu.

Regie führte die Australierin Sophie Hyde, die schon in ihren früheren Filmen „52 Tuesdays“ (2014) und „Animals“ (2019) die Themen Sexualität und Geschlechterrollen durchdeklinierte. Für ihren dritten Film hat sie gründlich recherchiert und mit vielen Sexarbeitern gesprochen. Und sie hat einen geschützten Raum für ihre Darsteller erschaffen, in dem diese sich ohne Verklemmungen aufeinander einlassen konnten. Daryl McDormack gelingt dabei die Kunst, neben der großen Emma Thompson bestehen zu können. Dennoch gehört der Film ganz seinem Star.

Und am Ende gibt es noch einen ganz ehrlichen Moment. Da steht Thompsons Nancy nackt vor einem Spiegel. Und betrachtet sich. Noch nie hat die zweifache Oscar-Preisträgerin in einem Film auch nur ihre Brüste entblößt. Jetzt aber, mit reifen 62, zeigt sie alles. Das sei wohl der schwierigste Moment ihrer Karriere gewesen. „Ich kann nicht so vor einem Spiegel stehen“, gab die Britin im Februar in Berlin zu, wo ihr Film auf der Berlinale lief. „Ich ertrage es nicht, mich so anzusehen.“ Im Film aber tut sie es mit Wohlwollen, Würde, ja Stolz. Der Moment einer weiblichen Selbstermächtigung, dessen Zeuge man wird. Das ist mutig, atemberaubend und lohnt allein den Gang ins Kino. Dieser Film ist komisch, bewegend – und sexy.

„Meine Stunden mit Leo“ 97 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Abaton, Holi, Koralle, Zeise