Bremen. Erst wird eine tote Frau im Hochzeitskleid entdeckt, dann verschwinden ihre Töchter: „Liebeswut“ als glorreich inszenierter Thriller.
Entgegen mancherorts geäußerten Hoffnungen, Krimis zur besten Sendezeit sollten endlich mal wieder solide erzählte Wer-war-es-Erzählungen sein und wirklich gar nichts anderes, sind „Tatorte“ genau dann eben nicht Tipptopp-Sonntagabend-Unterhaltung. Sondern im schlimmsten Fall verschnarchte Auftragsarbeiten. Ein Premiumprodukt ist der „Tatort“ dann, wenn er seine Ermittlerfiguren und deren Beziehungsgeflecht weiterentwickelt, horizontal und an vorherige Episoden anknüpfend erzählt. Wenn er formal etwas wagt, eine eigene Bildsprache findet. Und natürlich: Wenn er spannend ist.
Die gute Nachricht ist, dass die Folge „Liebeswut“ genau das ist. Ein glorreich inszenierter, glänzend gespielter und ästhetisch wagemutiger Thriller, der gleichzeitig anspruchsvoll und gar nicht verkopft ist. Im Gegenteil, hier ist alles Gefühlsbombast und emotionale Überlast.
Tatort: Tote Braut und verschwundene Töchter
Geht schon los mit einem von den in den ersten Folgen des Bremer Ermittlerteams Moormann/Selb/Andersen etablierten inneren Monologen von Kommissarin Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer). Die dekretiert gleich mal von der falschen Dosis Liebe, die alle in den Abgrund reiße. Und dann stapft sie auf bekannt störrisch, aber unwilliger als sonst durch eine abgefackelte Bude im unterprivilegierten Teil der Stadt. Findet eine Frauenleiche im Hochzeitsornament in einem versteckten Schlafzimmer.
Der Suizid einer psychisch Kranken? An der Wand hinterlassene kryptische Botschaften vom Teufel, der jemanden holen wolle, sind unbedingte Marker für fortgeschrittenen Wahnsinn. Die Töchter der toten Susanne Kramer verschwinden, und bald geht es für Moormann und Kollegin Selb (Luise Wolfram) vor allem darum, die Mädchen wiederzufinden. Genau, Dänenimport Andersen (Dar Salim) fehlt diesmal, er hat Kopenhagener Verpflichtungen.
Tatort: Verstörendes Gruselkabinett
Was er verpasst, ist ein überragend durchgestyltes Gruselkabinett, eine Freak- und Horrorshow, wie man sie im „Tatort“ selten gesehen hat. Am normalsten erscheinen noch die Eltern der Verblichenen, obwohl auch bei denen schon Verhaltensauffälligkeiten ins Auge stechen. Die rabiate Gestörtheit, das verstörende Aus-der-Normalwelt-Gefallensein des weiteren Personals lässt dafür den Geigerzähler in ungeahnte „Tatort“-Höhen steigen. Mehr Verstrahltheit war selten.
Das gilt für den hypernervösen ehemaligen Ehemann der Toten (großartig: Matthias Matschke) und noch mehr für dessen hyperkindliche neue Lebenspartnerin (Milena Kaltenbach), die quietschbunt durch die Szenerie kiekst. In einem vorerwachsenen Stadium hängen geblieben ist auch Gernot Schaballa (Aljoscha Stadelmann), der in der Wohnung unter Susanne Kramer wohnt, von morgens bis abends Eis schleckt und die Übergriffigkeit eines zuckergeschockten Knuddelmonsters an den Tag legt.
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Der Schulhausmeister (Dirk Martens) schnüffelt heimlich an den Kleidern der Schülerinnen und zieht sich dabei die vollendete Härte der Ermittlerin Selb zu. Die Begierden sind in diesem an der Hässlichkeit der menschlichen Natur so eminent interessierten Film von Einsamkeit umtost.
Verwahrlosung und Bedürftigkeit wird hier grell ausgestellt. Die mehrfach ausgezeichnete Regisseurin Anne Zohra Berrached veredelte das Drehbuch (Martina Mouchot) zu einem faszinierend dichten Psychotrip, der Sehgewohnheiten auf die Probe stellt. Die persönliche Involviertheit von Kommissarin Moormann, die während den Ermittlungen mehrfach traumatisch getriggert wird und aufgrund dieser Heimsuchungen verschüttete Biografiepartikel freigräbt, gibt dem Stoff die notwendige zweite Ebene.
In ein lustvoll spielendes Ensemble fügt sich Jasna Fritzi Bauer prima ein. Die Dynamik der Moormann-Selb-Beziehung wird plausibel herausgearbeitet. Es ist die Empathie-unbegabte Selb, die momentweise zu einer beinah zärtlichen Geste fähig ist. Danach wird’s ultrabrutal, aber am Ende liegt die richtige Leiche im Keller.
„Tatort: Liebeswut“ Sonntag, 20.15 Uhr, Das Erste