Hamburg. In „Dschinns“ erzählt Autorin Aydemir schicksalhaft von einer deutschtürkischen Familie. Ein mit Dringlichkeit geschriebener Report.

Er hat 30 Jahre geschuftet, sich abgeplagt fürs Wirtschaftswunderland. Für Deutschland, „dieses kalte, herzlose Land“. Hüseyin Yilmaz kam als Gastarbeiter, nun, mit 60, will er wieder gehen. Endlich. Die Ernte einfahren. In Form einer Wohnung im grandiosen Sehnsuchtsort Istanbul. In einer Stadt, die er nur flüchtig kennt. Hüseyin stammt aus der türkischen Provinz. Er ist Kurde. Das ist wichtig.

In ihrem zweiten Roman stellt die nahe Karlsruhe aufgewachsene Erzählerin Fatma Aydemir erneut mit Vehemenz die Außenseiterposition aus. Erst Kurde in der Türkei, dann Türke in Deutschland: Hüseyin weiß, wie es ist, der Mehrheitsgesellschaft verdächtig zu sein.

Fatma Aydemir gießt ihr Schicksal in „Auf-die-Fresse-Polemik“

Seine Beziehung zu Deutschland ist eine der tief sitzenden Desillusionierung. Bei seiner Erfinderin Fatma Aydemir, Jahrgang 1986, ist da eher Zorn. Und die Kraft, das Schicksal der Immigranteneltern und Immigrantenkinder in Auf-die-Fresse-Polemik zu gießen. So geschehen in ihren „taz“-Kolumnen und dem Sammelband „Eure Heimat ist unser Albtraum“, wo Aydemir provozierend das Sprachrohr eines oft an den Rand gedrängten und durchaus von den rassistischen Auswüchsen biodeutscher Identität gefährdeten Milieus ist.

Ihr 2017 erschienenes und unter anderem mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis ausgezeichnetes Debüt „Ellbogen“ erzählte die Geschichte einer jungen Berlinerin, die durch eine Gewalttat aus ihrem normal komplizierten Bi-Kultur-Leben gekickt wird, und war die deftige Absage an deutsch-türkischen Versöhnungskitsch. „Dschinns“ macht dort weiter und ist der nächste mit Dringlichkeit geschriebene Report einer Lebenswelt, in der Vorurteile, Alltagsrassismus und Heimatlosigkeit herrschen.

In dieser Welt wird tapfer durchgehalten, geschwiegen und irgendwie bewältigt. Wenn man der ersten Generation angehört, jenen in den 1960ern und 1970ern mit diffusen Hoffnungen Eingewanderten. Männern wie jenem Hüse­yin, dem nur die Ouvertüre dieses schicksalsprallen und zeitlich Ende der 1990er-Jahre angesiedelten Romans vorbehalten ist. Er stirbt nämlich, am ersten Tag in seiner neuen Wohnung. Das Herz. Gebrochen war es schon lange, wie Leserinnen und Leser viel später in diesem an Wendungen nicht armen Plot erfahren.

Fatma Aydemir schichtet in „Dschinns“ viel Stoff

Zugegeben: Fatma Aydemir, deren Stil einen ehrgeizigen Formwillen bewusst ausschließt, schichtet in „Dschinns“ viel Stoff, aber das muss auch so sein. Aydemir wollte nichts weniger, als den ultimativen deutschtürkischen Familienroman schreiben und von der Dazwischenwelt der Zugezogenen und Fremd-hier-Geborenen als farbensatte Tragödie erzählen.

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Und da ist der narrative Ausgangspunkt mit dem toten Patriarchen gut gewählt. Hüseyin wird im Verlauf des Romans oft wiederkehren. Als Bezugspunkt und Gegenspieler seiner vier Kinder und seiner Frau Emine, aus deren Perspektiven sich „Dschinns“ zusammensetzt. Gemäß der muslimischen Bräuche muss Hüseyin schnell unter die Erde gebracht werden. Von der getrennten Anreise in die Türkei und den unterschiedlichen Leben, die Töchter, Söhne und Ehefrau führen, handelt das Buch. Es fesselt auf die gute, alte romanrealistische Weise, wonach jede unglückliche Familie auf ihre eigene Weise unglücklich ist.

Bei Familie Yilmaz hängt das mangelnde Vermögen zum Glücklichsein nicht allein am Fremdbleiben der neuen Heimat, sondern an einem erst spät aufgelösten Trauma der Eltern, von dem die Kinder Sevda, Hakan, Peri und Ümit noch nichts ahnen. Beinahe erwartbar ist, dass die Eltern auch nach Jahrzehnten in Deutschland kaum Deutsch sprechen, die Kinder wiederum wenig Türkisch. Keines von ihnen möchte im Land seiner Ahnen leben, die mitteleuropä­ische Lebensart ist die ihnen vertraute.

Den Vorurteilen der Staatsgewalt ausgesetzt

Fatma Aydemir: „Dschinns“. Hanser. 367 Seiten, 24 Euro
Fatma Aydemir: „Dschinns“. Hanser. 367 Seiten, 24 Euro © Hanser Verlag | Hanser Verlag

„Dschinns“ ist auf denkbar unterhaltsamste Art Soziologie: Porträtiert wird eine Gesellschaftsschicht, von der wir alle oft so ungefähr zu wissen glauben, wie komplex Lebensumstände und Gefühlslagen dort sind. Hier bekommt man dann aber eindrücklich vorgeführt, wie es so war und ist als mal mehr, mal weniger stigmatisierte Bevölkerungsgruppe. Die siedendheiße Scham des Vaters, als Hakan einmal von der Polizei zu Hause abgeliefert wird, weil er beim Sprayen erwischt wurde. Wie soll er seinem Sohn helfen, hat er ihm nicht beigebracht, dass er als Türke besonders vorsichtig sein muss?

Den Vorurteilen der Staatsgewalt ist Hakan einige Jahre später noch mal ausgesetzt. Macht es etwas, dass Aydemir die bayrischen Polizisten, die ihn auf der Autobahn kontrollieren, als übertrieben arrogant und nassforsch darstellt?

Aydemir gibt ihren Figuren ein Eigenleben

Dass sie diesen Hakan, einen eher lasterhaften Zeitgenossen, fortwährend von „Freizeit-Nazis“ parlieren lässt und auch sonst nicht zögert, die Distanz zu zeigen, die er und seine Geschwister bisweilen zu Deutschland haben müssen, auch angesichts fremdenfeindlicher Anschläge? Keineswegs. „Authentisch“ ist ein Gähn-Wort, aber es hat seine Berechtigung.

Die kraftmeiernde Sprache, derer sich die Geschwister bemächtigen, ist pure Rollenprosa. Aydemir nimmt sich den Platz, um ihren Figuren – trotz der immer gleichen Identitätsproblematik, die bei allen gesetzt ist – ein Eigenleben zu geben. So ist „Dschinns“ insgesamt zwar ein wenig überfrachtet (dank eines Twists geht es am Ende auch noch um ein Transgender-Schicksal) und doch ein gelungener Versuch, über die Konfliktlinien zu erzählen, die sich dort zeigen, wo Kulturen aufeinandertreffen und Herkunft eine schwierige Kategorie ist.