Hamburg. Der Klaus-Michael-Kühne-Preis 2017 geht an Fatma Aydemir und ihr Buch „Ellbogen“. Roman als kalkulierte Schockverabreichung.
Sie ist frustriert, hat keine Träume. Sie jobbt in der Bäckerei ihres Onkels, im Schreiben von Bewerbungen sieht sie keinen Sinn mehr. Was hilft, ist: kiffen. Sich auf den 18. Geburtstag freuen, an dem sie mit den Freundinnen derbe einen draufmachen will. Party als Ventil? Bei Hazal, der Heldin in Fatma Aydemirs erstaunlichem Debütroman „Ellbogen“, geht der Abend, der der geplagten Teenagerseele Linderung verschaffen sollte, dramatisch schief. Nach einem Zwischenfall in der U-Bahn-Station werden Hazal und ihre Weddinger Mädchen-Posse von der Polizei gesucht. Hazal flieht in die Türkei, das Geburtsland ihrer Eltern.
Aggressiver Roman
„Ellbogen“ ist ein harter, ein brutaler und aggressiver Roman, der von seiner verblüffend kaltblütigen und dennoch nie unsympathischen Heldin lebt. Das Buch ist Ausdruck von Heimatlosigkeit und Unversöhnlichkeit und seine Urheberin die Gewinnerin des Klaus-Michael-Kühne-Preises 2017. Die Jury, bestehend aus Journalisten und Buchhändlern, entschied jetzt, Fatma Aydemir den seit 2011 in Hamburg im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals vergebenen Preis für das beste Debüt des Jahres zuzuerkennen. Er ist mit 10.000 Euro dotiert.
Fatma Aydemirs Roman „Ellbogen“ sei „ein fulminantes, durchschüttelndes und durchrüttelndes Buch über deutschtürkische Identität und Bikulturalität“, heißt es in der Jury-Begründung. Und weiter: „Vor allem aber ist es ein Buch über die Wut. Woher kommt die Wut, was lässt sie wachsen, und welche verheerenden Folgen kann sie haben?“ Konsequent und kompromisslos erzähle Fatma Aydemir „von schierer Ausweglosigkeit – und führt uns doch hochpoetisch ins Offene. Dieser Roman ist ein heftiger mentaler Ellbogencheck, von dem der Leser sich lange nicht erholt.“
Mentale Schieflage
Wenn Literatur soziologisch fruchtbar gemacht werden soll, könnte man Aydemirs Roman als kalkulierte Schockverabreichung lesen: Donnerwetter, es sind also nicht nur junge Männer, die ihre Aggression abreagieren, es sind auch Mädchen. In Aydemirs geschickt gebautem Text gibt es zwei Teile, die für Hazals mentale Schieflage zwei Seiten derselben Medaille sind. Die Berlin-Episode verdeutlicht die klaustrophobische Enge dieser deutschtürkischen Wirklichkeit. Strenge Moralvorstellungen der Eltern verhindern, dass Hazal sich und ihre Jugend auslebt.
In Istanbul ist sie dann eine komplett Ahnungslose, die über die Heimat ihrer Eltern nicht viel weiß. Türkisch spricht sie, aber auch nicht wirklich perfekt. Vom Kurdenkonflikt und Erdogans autoritärer Form von Präsidentschaft hat sie keine Vorstellung. Und doch hat sie einen wilden Überlebenswillen, trägt einen natürlichen, existenziellen Trotz in sich, der sie auf unerhörte Weise aus allen moralischen Zusammenhängen entlässt. Eine solche Heldin hat es in der deutschsprachigen Literatur bislang nicht gegeben.
In Karlsruhe geboren
Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main. Seit 2012 lebt sie in Berlin und arbeitet als Redakteurin bei der Tageszeitung „taz“. Als Kühne-Preisträgerin folgt sie auf Dmitrij Kapitelman, der die Auszeichnung im vergangenen Jahr für „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ erhielt. In diesem Jahr lasen auch Stephan Lohse („Ein fauler Gott“), Alina Herbing („Niemand ist bei den Kälbern“), Isabel Fargo Cole („Die grüne Grenze“), Julia Weber („Immer ist alles schön“), Felix Lobrecht („Sonne und Beton“), Nava Ebramihi („Sechzehn Wörter“) und Rudolf Herzog („Truggestalten“) im Debütantensalon.
Der Autor ist Mitglied der Kühne-Preis-Jury