Hamburg. Trotz kleiner Wackler ist der unkaputtbare Weihnachtsklassiker ein Fest der Hinguckerei. Das belegt die wohl schönste Szene des Abends.

Nach dem Schlussapplaus nimmt sich Intendant Marius Adam noch Zeit, um ausgiebig Danke zu sagen. Seinem Team der Kammeroper vor und hinter der Bühne, das gerade eine aufwendige Premiere von Humperdincks „Hänsel und Gretel“ gestemmt hat. Aber auch seinem treuen Publikum, dem er verspricht, alles dafür zu tun, dass man sich sicher fühlen könne. Diese Botschaften sind ihm ein wichtiges Anliegen. Ein Zeichen für den familiären Geist des Allee Theaters, aber auch für die aktuelle Ausnahmesituation.

Die Begegnung mit Kultur, mit Livemusik ist etwas Kostbares und keine Selbstverständlichkeit. Das gilt selbst für einen unkaputtbaren Weihnachtsklassiker wie „Hänsel und Gretel“.

„Hänsel und Gretel“ am Allee Theater ist fantasievoll

Eigentlich hätte Adams eigene Inszenierung schon vergangenes Jahr an den Start gehen sollen, aber dann kam die November-Notbremse. Jetzt konnte die Kammeroper die Proben fortsetzen, parallel zum laufenden Betrieb. Ein Kraftakt. Der hat Spuren hinterlassen. Aber auch wenn es hier und da noch etwas wackelt: Es ist wieder eine gelungene Produktion. Weil Adam und seine Truppe das beliebte, mit bekannten Melodien gespickte Opernmärchen fantasievoll umsetzen.

Es gibt viel zu bestaunen, für die Augen sowieso, aber auch für die Ohren. Ettore Prandi, der musikalische Leiter, hat die üppige Orchesterbesetzung von Humperdincks Partitur für vier Streicher und zwei Bläser verschlankt und die warmen Farben betont.

Kostüme und Bühnenbild sind hinreißend gelungen

Diese Lust am Spiel mit den Farben spiegelt sich auch im Bühnenbild und in den Kostümen. Lisa Überbacher und Monika Diensthuber feiern ein Fest der Hinguckerei, mit viel Liebe zum Detail. Hinreißend die Auftritte von Anne Elizabeth Sorbara als Sand- und Taumännchen. Erst platinblond und in weiße Daunendecken gewickelt, dann ganz in Schwarz, mit hoch aufzackender Königin-der-Nacht-Gedenkfrisurkrone und goldenen Flügeltierchen am Kleid.

Zauberhaft auch, wie sich die Bäume im dritten Akt in eine Naschwelt verwandeln, im rotweißen Zuckerstangenlook plus Cocktailkirschen. Aber bitte mit Sahne! In diesem Setting erzählt Marius Adam die Geschichte vom Geschwisterpaar, das der Knusperhexe auf den süßen Leim geht, mit einem gewohnt charakter- und stimmstarken Ensemble.

Titus Witt – mit kernigem Bariton – gibt den Vater als zwielichtigen Trinker, der wohl einen Deal mit der Bösen abgeschlossen hat, Feline Knabe eine von Sorge verhärmte Mutter. Jana Lou ist eine herrliche Sopranhexe, mit häss­lichen Zahnlücken und fiesen Finger­nagel-Extensions. Ihr Zauberstabdolch schlägt Hänsel und Gretel in den Bann – bis das Mädchen die Hexe überlistet, in den Ofen kickt und zu Lebkuchen bäckt.

Spielfreude schlägt Perfektion im Allee Theater

Von den Geschwistern ist Gretel die Smartere und vielleicht auch etwas Mutigere. Marius Adam schickt die junge, fein timbrierte Sopranistin Maria-Teresa Bäumler mit braven Zöpfen und angstgroßen Augen ins Zuckerwunderland. Doch als es düster wird im Wald, schützt sie ihr Brüderchen, das zwar große Töne spuckt, sich aber lieber hinter der Schwester versteckt.

Die Figuren sind plastisch bis quietschlebendig dargestellt und gesungen. Spielfreude schlägt Perfektion, das ist auch gut und richtig so. Allerdings lässt die Premiere Raum für mehr Feinschliff und Nuancen. Manches klingt ein bisschen nach Sicherheits-Forte. Dabei wäre das gar nicht nötig, denn gerade da liegt eine besondere Stärke des Allee Theaters: dass der kleine Saal intime Momente zulässt. Wie wunderbar das wirken kann, belegt die vielleicht schönste Szene des Abends. Als Hänsel und Gretel ihren Abendsegen anstimmen – und die beiden Sängerinnen in einem Duett verschmelzen, ganz anrührend und schlicht. Plötzlich ist all das, was draußen in der Welt passiert, für ein kurzes Weilchen weggeträumt.

„Hänsel und Gretel“ bis 26.12., Allee Theater, Karten unter T. 38 29 59