Hamburg. Mirga Gražinytė und das City of Birmingham Symphony Orchestra begeistern mit Janáčeks „Schlauem Füchslein“ im Großen Saal.
Sie könnte auch eine schlimm zerrupfte 1994er-Ausgabe des Bielefelder Telefonbuchs von A bis Z und zurück durchdirigieren, und der Anblick wäre wohl immer noch im schlichtesten Sinne des Wortes: hinreißend. Mirga Gražinytė-Tylas weich fließender, unbeschwert aus den Handgelenken kommender Gestenstil ist unvergleichlich charmant, zielstrebig, verspielt und energiegeladen zupackend zugleich. Noch ist die junge Litauerin Chefdirigentin beim CBSO in Birmingham fest engagiert, unglaublich beliebt, doch nach wie vor auf dem Sprung zu mehr Freiheit und noch größeren Aufgaben; im nächsten Jahr zieht sie sich dort auf den weniger verpflichtenden Posten der Ersten Gastdirigentin zurück und lässt alles und jeden auf sich zukommen.
Ein Glücksfall an sich also, sie jetzt noch gemeinsam bei einem konzertanten Opern-Abend in der Elbphilharmonie gemeinsam erleben zu können. Wie es ihre Art ist (und dort auch schon war), aber nicht mit einem eingängigen Repertoire-Renner, sondern etwas ebenso Großartigem wie Speziellem: Janáčeks „Das schlaue Füchslein“, seine herzergreifende Fabel-Parabel über Liebe und Verlust. Keine dieser Sopran-trifft-den-Tenor-und-versetzt-dafür-den-Bariton-Opern mit erwartbarem Happy End, sondern eine kleine, fantasievolle Geschichte über einen alten Förster und eine junge, von ihm eingefangene Füchsin aus dem böhmischen Wald und dem Unterholz der Seelen. Auf Tschechisch mit Untertiteln, aber immerhin deutlich oberhalb von konzertant. Das muss man schon wollen als Publikum.
Konzert in der Elbphilharmonie: Ein bezauberndes „Schlaues Füchslein“
Wer wollte und gekommen war (ausverkauft im Rahmen des Möglichen war der Große Saal nicht), wurde mit knapp zwei Stunden prächtiger, vitaler und farbenpraller Musik belohnt, die in ihrer Unmittelbarkeit zum Schönsten und Raffiniertesten gehört, was das frühe 20. Jahrhundert zu bieten hat. Etwas Regie gab es auch: Das Ensemble wurde nicht stumpf zum Singen an der Rampe geparkt, sondern während der szenischen Andeutungen durch einige Requisiten und Kostüme erkennbar gemacht: der Förster bekam einen Ast als Gewehr, die – allesamt großartigen – Kinderdarsteller der Tierchen des Waldes, Frosch, Grille, Heuschrecke und Fuchsjunge, trugen Kostüme wie bei einer Schultheater-Dramatisierung von „Biene Maja“, die Hauptdarstellerin Elena Tsallagova eine rote Baskenmütze mit spitzen Ohren zum rötlichen Outfit.
Schade nur, dass die ohnehin eigenwilligen Handlungsabläufe der drei Akte während der orchestralen Zwischenspiele nicht auch per Untertitel erklärt wurden, das wäre für alle Nicht-Janáčekianer hilfreich gewesen. Das Nichtvorhandensein eines Bühnenbilds, eines sichtbaren Erzählrahmens machten diese niedlichen Bemühungen auf der Spielfläche vor dem Dirigentinnenpult nicht ganz wett. Womöglich hätte der Abend an sich durch eine konkrete szenische Umsetzung an Zugkraft und Faszination gewonnen. Derart um die meisten Darstellungs-Chancen reduziert, blieb der Eindruck eines guten, sehr gut gemeinten Notbehelfs.
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Ein vorwitziges, enorm temperamentvolles Füchslein
Dafür saß ein großer, spendabel besetzter Orchesterapparat im Dritteldunkel der Bühne, erweitert um Mitglieder des hiesigen Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chors am hinteren Rand. Mirga Gražinytė-Tyla konnte also ungebremst aus dem Vollen schöpfen, um die sprachmusikalischen Möglichkeiten voll auszukosten. Und dabei hatte sie mit dem CBSO ein ihr toll ergebenes, aber auch selbstbewusst auftrumpfendes Orchester zur freien Verfügung, das mit Janáčeks detailfunkelndem Schilderungsreichtum bestens umzugehen verstand. Obwohl Versuchung und Risiko groß waren, sorgte Gražinytė-Tyla unentwegt geschickt dafür, dass nie eine gesungene Stimme von hinten brachial übertönt wurde.
Um den zoologischen Cast klein zu halten, hatte der eine oder die andere gleich drei bis vier der kleineren Rollen zu übernehmen. Vom ersten Einsatz an packend war die spielfreudige Leichtigkeit, mit der Tsallagova ihren Part ausfüllte. Sie sang das vorwitzige Füchslein enorm temperamentvoll, von kokett bis höchstexpressiv, leuchtend in der Höhe und druckstark selbst in jenen Phasen, in denen Janáček das Tutti auf die Klangpracht einer ausgewachsenen Strauss-Oper ausreizte, um danach wieder in seinen leichten, fast plaudernden Erzählton zurückzufallen.
Viel Gespür auch für die folkloristischen Zwischentöne
Roland Wood war ein ebenbürtig packender Förster, ein knackig geschmeidiger Helden-Bariton, der klar und markant seinen Jägersmann stand. Auch ihn hätte man sehr eine richtige, komplette Bühne gegönnt, zum Aussingen und zum Ausspielen aller Nuancen. Angela Brower als Fuchs war eine Solistin, die jeden Auftritt zum kleinen Erlebnis machte. Dass die Geschichte selbst von Akt zu Akt immer unsichtbarer wurde, auch weil sie sich eh kaum erschloss, ließ die sinnlich eigenwillige Musik nur umso kräftiger wirken. Gražinytė-Tylas Gespür auch für die folkloristischen Zwischentöne und die Magie des Stücks jedenfalls bezauberten offensichtlich: Der Beifall war so groß und dankbar, als hätte man gerade eine gute alte „Carmen“ erlebt. Was zeigt: Janáček wirkt.
Aufnahme: „The British Project“ Werke von Elgar, Britten, Walton und Vaughan Williams. Mirga Gražinytė-Tyla, City of Birmingham Symphony Orchestra (DG, CD ca. 15 Euro)