Hamburg. Nach zehn Jahren endlich ein neues Werk der einstigen Buchpreis-Gewinnerin. Thema von “Welten auseinander“: ihre chaotische Kindheit.

In einem Winter zieht die Mutter in den Stall, um die Sau zu unterstützen. Diese hat zu wenig Zitzen für zu viele Ferkel. Anna schläft für Wochen im Stroh. Das kann man Hingabe und Verantwortungsgefühl nennen. Anna, die den Geruch des Stalls mag, sorgt dafür, dass die Sau kein Ferkel versehentlich tottritt, wenn die sich beim Säugen abwechseln.

Im Verhältnis mit ihren Kindern legt die leidenschaftliche Selbstversorgerin ein gänzlich anderes Verhalten an den Tag. Nämlich das gegenteilige: Mütterlichkeit und Pflichtgefühl sucht man dort vergebens. Deshalb ist die Ferkel-Episode ein grelles Beispiel, wie speziell eine Mutter hier ihre Rolle interpretiert. Das Buch „Welten auseinander“ erzählt auch von dieser Frau, die irgendwann fünf Töchter, aber gar kein Interesse daran hat, für diese da, nah und greifbar zu sein, auf fulminante, ja exzessive Weise.

Eindrucksvoller Roman: Julia Franck ist zurück mit neuem Buch

Was kein Wunder ist, denn Autorin dieses Buchs ist Julia Franck, eine jener Töchter Anna Francks. Verlässlichkeit hat die Schriftstellerin in ihren ersten beiden Jahrzehnten, um die es in diesem Buch geht, nie kennengelernt.

Julia Franck gewann mit ihrem in 37 Sprachen übersetzen Roman „Die Mittagsfrau“ im Jahr 2007 den Deutschen Buchpreis. Dort erzählte sie erstmals von ihrer Familie, in diesem Fall von ihrem Vater, dem Fernsehregisseur Jürgen Sehmisch, der 1945, kurz nach Kriegsende, von seiner Mutter auf einem Bahnsteig ausgesetzt wurde und sie danach nicht wieder sah.

Vier Jahre später, in „Rücken an Rücken“, thematisierte Franck die andere Seite ihrer Sippe. Diesmal war es die der DDR und dem Kommunismus treu ergebene, ihren Kindern aber ferne Bildhauer-Oma – im Roman Käthe, im echten Leben Ingeborg Hunzinger –, die im Mittelpunkt stand. Im Roman entfährt ihr einmal, als sie sich um ihren kranken Sohn kümmern soll, ein „Bin ich Mutter von Beruf?“

„Welten auseinander“: Ein autofiktionaler Roman

Ein Widerhall jenes auch die Entrüstung über althergebrachte weibliche Rollenbilder kristallisierenden Ausrufs ist nun die Haltung der Mutter in Francks neuem Buch. Die Mutter ist die vernachlässigte Tochter der Bildhauerin aus dem Vorgängertext; und das nun satte zehn Jahre nach diesem erscheinende „Welten auseinander“ wiederum ist nicht als Roman gekennzeichnet. Die Familie taucht diesmal – von Ingeborg/Käthe wird erneut berichtet – mit Klarnamen auf. „Welten auseinander“, diese besondere Erzählung der 1970er- und 1980er-Jahre des geteilten und schließlich wiedervereinten Deutschlands, ist ein, Achtung Modewort: autofiktionaler Text.

Julia Franck: „Welten auseinander“. S. Fischer Verlag. 368 Seiten, 23 Euro
Julia Franck: „Welten auseinander“. S. Fischer Verlag. 368 Seiten, 23 Euro © S. Fischer Verlag | S. Fischer Verlag

Und das ist es, die Tatsache, dass nichts wirklich erfunden, sondern tatsächlich passiert ist, was ihn zu einer eindrucksvollen Lektüre macht, zum Zeugnis eines erstaunlichen, komplizierten, ungewöhnlichen Lebens. Dieses Leben ist, wohlgemerkt, nicht Anna Francks Leben, sondern Julia Francks Leben. Um dieses geht es vordringlich. Die transgenerationelle Weitergabe der mütterlichen Verweigerung ist nur die eine Geschichte. Die andere ist die, die vom Durchkommen der Tochter handelt, vom Selbstermächtigen und vom Abhauen.

Wo war die sorgenlose, behütete, durchschnittliche Kindheit?

Die Ich-Erzählerin dieses Werks ist eine Heldin gegen alle Widerstände, sie beansprucht nicht, im Besitz aller Wahrheiten zu sein. Dem Text ist folgendes Geleitwort vorangestellt: „Oft liegen unsere Geschichten und unsere Sicht auf die Wirklichkeit Welten auseinander. Wir erinnern uns an Ereignisse und unsere nächsten Menschen vollkommen unterschiedlich. Daher wird sich keine reale Person in einer der Figuren dieses Buches wieder erkennen.“

Ihr eindringlich geschriebener Bericht ist, ohne je in einen jammernden Ton zu verfallen, eine fortlaufende Verlustauflistung und eine implizite Vermisstenanzeige: Wo war sie, die sorgenlose, behütete, normale, durchschnittliche Kindheit? Franck legt in einer pendelnden Erzählbewegung, der Chronologie nicht immer ein Anliegen ist, ihr Herkommen dar und den Werdegang einer früh auf sich allein Gestellten, der sich aus diesem ergab.

Aus dem Osten ins Auffanglager West-Berlins

Die Mutter war Schauspielerin und bewegte sich zuerst im Dunstkreis der Ostberliner Kulturboheme. Nina Hagen und Wolf Biermann werden beiläufig genannt; der VIP-Faktor des Umfelds ist Franck nicht unwichtig, auch das unterstreicht ja hier und da auf immerhin glamouröse Weise das Hervorgehobene ihres Aufwachsens. Aber sie wird herumgereicht, und nicht nur, weil Mama abends auf der Bühne steht. Julia und ihre Zwillingsschwester sind Anna ein Klotz am Bein, und irgendwann ist es auch der Staat, der einsperrt. Der soundsovielte Ausreiseantrag wird bewilligt.

Anna Franck darf nach Westdeutschland ausreisen. Die Kinder, so kommt es einem beim Lesen jedenfalls vor, werden Ende der Siebzigerjahre im Alter von acht Jahren über einen notgedrungenen Zwischenstopp in Westberlin in die Nähe von Rendsburg verschleppt. Ein Zwischenresümee der Erzählerin lautet wie folgt: „Aufgewachsen zwischen Brutkasten, einigen Freunden, Pflegefamilie, Krippen, Wochenheim und wechselnden Kinderfrauen ohne traditionelle Architektur einer Kernfamilie mit einem Vater und einer Mutter, sollten wir nach unserer Übersiedelung aus Ost-Berlin auf ungewisse Zeit im West-Berliner Notaufnahmelager Marienfelde leben …“

„Die Wildnis einer Herkunft lässt sich nicht eindeutig beschreiben“

Die Alleinerziehende – von einem vierten Mann wird sie später eine fünfte Tochter bekommen – arbeitet nicht, lebt von der Sozialhilfe und vom Kindergeld. Ihre Interessen sind Esoterik (die Kinder gehen auf die Waldorfschule), billiger Wein, Zigaretten, der Garten, die Schweine. Sie schläft bis mittags, die Kinder machen sich alleine fertig für die Schule. Die Kinder schämen sich für ihre Armut und ihre Mutter. Julia versteht früh, dass der Mangel, den sie alle bis auf die älteste Schwester, an der vonseiten der Mutter ein gewisses Interesse besteht, erleiden müssen, nicht normal ist. Die Bitterkeit, die aus manchen Zeilen spricht, ist dennoch abgeklärt.

Die Heranwachsende beginnt mit der Niederschrift eines Tagebuchs, aus dem stellenweise zitiert wird. Mit 13 ist sie in Westberlin, dem Chaos entronnen, lebt bei Freunden der Mutter, in einer WG. Kurz vor dessen frühen Tod lernt sie ihren Vater noch kennen. Sie jobbt viel, sie braucht ja Geld. Zu ihrer Mutter hat sie kaum Kontakt. „Die Wildnis einer Herkunft lässt sich nicht eindeutig beschreiben“, heißt es in dem Text, der um dieselben Themen mäandert, ohne je seine Sogkraft zu verlieren.

Was daran läge, so die Erzählerin weiter, dass Gewährsfrauen wie die Mutter ihr Erleben zu etwas Mythischem machten. Julia Franck erzählt, ist man geneigt zu sagen, zu reflektiert, um ihre Geschichte unter einen möglicherweise verfälschenden Überbau zu stellen. In Berlin lernt sie Stephan kennen. Die große Liebe ist kein Mythos, sondern die Quelle wahrer Schmerzen. Auch von dieser neuen Verlusterfahrung handelt dieses fesselnde Buch.