Hamburg. Die Musik ist beim Harbour Front Festivalabend mit Jörg Widmann und Anna Prohaska an den Rand gequetscht.
Im Oktober 2012 trug es sich zu, dass an der Bayerischen Staatsoper Jörg Widmanns Oper „Babylon“ zur Uraufführung gelangte. Als Librettisten hatte er den Philosophen Peter Sloterdijk gewonnen, die Rolle der Priesterin Inanna sang die Sopranistin Anna Prohaska.
Im September 2021 sitzen die drei beim Harbourfront Literaturfestival auf der Bühne im Kleinen Saal der Elbphilharmonie und erinnern sich gemeinsam. Neun Jahre später? Warum nur? Selten stellt sich bei einer Veranstaltung diese Frage in solcher Schärfe und Vergeblichkeit. Jedenfalls ist der Saal deutlich schütterer besetzt, als er es coronahalber sein dürfte.
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Harbour Front: Sloterdijk holt weit aus
Sloterdijk holt zur Genese der Zusammenarbeit mit Widmann erstmal weit aus und sonnt sich in koketten Formulierungen, bis zu dem Libretto-Antrag sei er ästhetisch unbescholten gewesen. Wirklich unterhaltsam ist es, wenn Widmann erzählt: etwa dass sich Sloterdijk ausgerechnet für sein Kernanliegen, die berühmte babylonische Sprachverwirrung, nicht interessiert habe. Wir befinden uns also im antiken Babylon, nicht etwa in Berlin oder New York. Und da wird es inhaltlich interessant. In wenigen Worten breitet Sloterdijk aus, wie sich mit der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen und der babylonischen Keilschrift der Menschheit neue Antiken jenseits der Griechen und Römer erschlossen haben.
Immerhin kurz weht einen die Aktualität des Sommers 2021 an, als Sloterdijk den Monolog des Flusses Euphrat nach der Sintflut ankündigt und dabei von 49 Tagen Starkregen spricht.
Anna Prohaska singt lebendig und strömend
Die Musik ist an diesem dramaturgisch fragwürdigen Abend an den Rand gequetscht. Anna Prohaska steuert kluge Beobachtungen zum Gespräch bei, liest ausgezeichnet aus dem Libretto, vor allem aber singt sie lebendig und strömend, wenn auch oft ein wenig zu tief. Aus dem Stand die enormen Lagenwechsel in den kurzen Auszügen aus der Oper zu bewältigen, ist selbst für eine Sängerin mit einer so intelligenten Stimmführung viel verlangt.
Zum Schluss musiziert sie mit Widmann an der Klarinette und Daniel Gerzenberg am Klavier Schuberts „Der Hirt auf dem Felsen“. Farbig, innig, virtuos. Nur: Was hat das jetzt wieder mit „Babylon“ zu tun?