Hamburg. Am Thalia Theater feiert „Der Idiot“ Premiere, am Schauspielhaus ist „Die Brüder Karamasow“ zu sehen.
Es gibt wenige Autoren, die die Welt zu allen Zeiten exakt zu beschreiben wissen. Der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski zählt mit seinen Romanen dazu. Seine Figuren ringen um moralisches Handeln, mit Gott und Gottlosigkeit, mit sich selbst, mit der Liebe. Gleich zwei Theaterregisseure nehmen sich an den beiden großen Hamburger Sprechbühnen dieser Tage entscheidende Werke des Autors vor. Auch sie sind künstlerische Schwergewichte.
Dostojewski: Johan Simons ist begeistert von "Der Idiot"
Der Niederländer Johan Simons kommt von der Probe ins Café des Artistes hinter dem Thalia Theater, sein schwarzer Trainingsanzug ist mit Kreide verziert. Spuren des Bühnenbildes seiner Inszenierung von Dostojewskis „Der Idiot“, Premiere am Alstertor ist am 4. September. Den Roman hat der 75-Jährige mit 24 Jahren zum ersten Mal gelesen. Später immer wieder. „Das ist ein Weltroman. Fantastisch!“, ruft er aus. Simons gilt als großer Sinnsucher auf dem Theater – auch in seinen bisherigen Thalia-Arbeiten wie „Der Schimmelreiter“, ebenfalls mit Jens Harzer, 2017
zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
Die Geschichte des Fürsten Myschkin, der aus einem Sanatorium zurückkehrt und als wahrhafter, vollkommener und schöner Mensch – eine Art moderner Jesus – mit der Entfremdung der Gesellschaft konfrontiert wird, spricht ihn auf einer spirituellen Ebene an. „Ich bin sehr christlich aufgewachsen. Auch Dostojewski war ein sehr gläubiger Mensch und beschreibt ein riesiges religiöses Gefühl. Gott bietet ja auch Schutz“, erläutert Johan Simons. Er selbst sei allerdings noch als junger Mensch wieder vom Glauben abgekommen. „Es ist ja leider die große Strafe Gottes, dass er nicht existiert“, seufzt der Theatermacher. Die Fragen aber, die Dostojewski aufwirft, stellen sich drängender denn je, findet Simons.
„Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir überlegen müssen, wie wir mit der Welt umgehen. Wir haben die Basis verloren. Gott ist als Basis fantastisch oder grauenhaft, aber ich glaube, man muss irgendwo eine Liebe entdecken für die Welt, in der man lebt.“ Mit dem von Jens Harzer gespielten Fürst Myschkin kommt ein Mann in die Gesellschaft, der es wirklich gut meint mit der Welt. Die Menschen öffnen sich ihm. Doch die Sache geht nicht gut aus. Simons findet das Buch unendlich traurig, zum Glück aber habe es auch Humor. „Der Humor ist ein Trost.“
Oliver Frljic hat „Die Brüder Karamasow“ inszeniert
Oliver Frljic blickt mit Dreitagebart über Zoom aus einem weiß getünchten Zimmer in der kroatischen Hauptstadt Zagreb. Demnächst reist er nach Hamburg für die Endproben von „Die Brüder Karamasow“. Seine Inszenierung feiert am 12. September Premiere am Deutschen Schauspielhaus. Es ist Frljic’ erste Regiearbeit in der Hansestadt. Der Theatermacher, Jahrgang 1976, ist schon lange ein gefragter Mann auf europäischen Festivals, seit einigen Jahren arbeitet er regelmäßig am deutschsprachigen Theater.
Auch er ist ein Suchender, der Dostojewski bereits im Alter von 17 Jahren erstmals begegnete. „Ich versuche einen Dialog mit ihm zu führen, ihn als Medium zu nutzen, um Fragen aufzuwerfen, die mich interessieren“, sagt er. „Ich mag die Dialektik in seinem Schreiben. Die Figuren widersprechen sich manchmal in ein und demselben Satz.“
Den Regisseur interessiert an der Geschichte der drei Brüder, des akademisch-aufgeklärten Iwan, des gläubigen Aljoscha, des lasterhaften Dmitrij und ihres unehelichen Halbbruders Smerdjakow nicht der Krimi-Plot, der zum Tod des Vaters führt. Der Roman gilt als Essenz von Dostojewskis Schaffen, ist Ausdruck seines verlorenen Gott-Glaubens und des tiefen Zweifels an den Möglichkeiten eines sozialen Wandels.
„Das Theater muss seine eigene Realität schaffen“
Leicht auf die Bühne zu bringen sind beide Monumentalwerke naturgemäß nicht. Sicher ist, dass Johan Simons der Geschichte des „Idioten“ auf jeden Fall folgen will. „Ich muss überlegen, was ich auf der Bühne erzähle, das dem Buch etwas hinzufügt. Man muss sich zu dem Buch verhalten, denn im Theater hat man ein anderes Erfahrungsniveau.“
„Meine Aufgabe besteht nicht darin, die Geschichte zu erzählen, das kann der Roman besser. Das Theater muss seine eigene Realität schaffen“, beschreibt Oliver Frljic seinen Zugang. Diese soll allerdings keine konkreten Bezüge zur Gegenwart aufweisen. Gleichwohl will Frljic das Narrativ teilweise verlassen. „Ich möchte eine Wirklichkeit zeigen, bei der nicht klar ist, ob sie sich tatsächlich objektiv ereignet oder ob sie aus Fragmenten eines auseinanderfallenden Geistes – Iwans – besteht.“ Szenisch ist beiden Regisseuren ein hoher Grad an Abstraktion wichtig. „Ich mag keine Kunst, die man zu leicht versteht und suche nach Bedeutungen, die nicht so offensichtlich sind. Aber letztlich muss das Publikum seine eigene Bedeutung finden“, so Frljic.
Beide Romane prägen kraftvolle Frauenfiguren
Beide Romane prägen kraftvolle Frauenfiguren. In „Der Idiot“ erlebt Fürst Myschkin eine komplizierte Liebe zu gleich zwei starken Frauen, Nastassja und Aglaja. Erstere begehrt auch sein Gegenspieler, der gewalttätige Rogoschin. Nastassja hat durch Kindheitserlebnisse bei ihrem Pflegevater den Glauben an das Leben verloren und ist zur Zynikerin geworden. „Nastassja ist eine wirklich große tragische Figur. Sie hat ein großes Lebenstalent, aber es ist ein Leben, das zum Tod führt“, sagt Johan Simons. Aglaja versteht, dass Myschkin eine ungewöhnliche Liebe in sich trägt. „Da geht es eher um Mitgefühl und Empathie. Fürst Myschkin wünscht sich, dass es den Menschen gut geht“, erklärt Johan Simons.
In „Die Brüder Karamasow“ häuft Gruschenka jede Menge Geld an und wird zur Kapitalistin, weil sie darin den einzigen Weg erkennt, sich vom Patriarchat zu emanzipieren. Die soziale Ordnung ist ein großes Thema. Und da ist auch Oliver Frljic wieder bei seinem Hauptanliegen, der Frage nach der Freiheit. „Führt der Weg zur Emanzipation nur darüber, selbst Teil des Ausbeutungssystems zu werden?“ Aljoscha wiederum geht ins Kloster und unterwirft sich der kirchlichen Autorität des Starez Sossima.
Simons: „Der Idiot“ konfrontiert uns mit unserem Verhalten
Für Johan Simons ist „Der Idiot“ auch deshalb zeitlos, weil er uns mit unserem Verhalten konfrontiere. „Die Figuren haben einen Riesenreichtum. Und immer geht es um die Frage: Wie lebt man sein eigenes Leben?“ Und da findet er seinen Gegenwartsbezug: „Ich glaube, Zynismus braucht man jetzt nicht.“
Frljic wiederum, der nicht nur Theatermacher, sondern auch Religionswissenschaftler und Philosoph ist, entdeckt viele Gedanken Friedrich Nietzsches in „Die Brüder Karamasow“: „Auch in Dostojewski selbst rangen Glaube und Zweifel miteinander. Worauf basiert Moral, wenn wir alle Transzendenz entfernen?“ Die Instanz eines Gottes existiert auch für Frljic nicht. „80 Prozent aller Literatur basiert auf diesem Konzept von Gut und Böse, aber die Dinge sind komplexer.“ Das gilt auch für die Idee einer Hölle. „Was wäre, wenn die Hölle unsere Wirklichkeit ist und wir erkennen, dass es keine Entwicklung gibt?“
Die Beschäftigung mit der Werk von Fjodor Dostojewski wird für beide Regisseure auch nach den Premieren noch lange nicht zu Ende sein. „Der Idiot“ müsste er eigentlich jedes Jahr inszenieren, sagt Johan Simons. „Da könnte man eine fantastische Netflix-Serie daraus drehen.“
„Der Idiot“ Premiere 4.9., 19 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten und weitere Vorstellungstermine unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de„Die Brüder Karamasow“ Premiere 12.9., 19.30, Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten und weitere Vorstellungstermine unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de