Hamburg. Während Currentzis das SWR Sinfonieorchester dirigierte, dämmerte das Saallicht weg. Nichts für zarte Gemüter.
Vielleicht haben wir endgültig verlernt, echte Ruhe zuzulassen und kollektiv auszuhalten, bis es schmerzt. Vielleicht ist Musik ja gar nicht das Schwarze auf dem Papier, sondern vielmehr das Weiße; die ruhige Leere zwischen den Noten. Diese Thesen gab Teodor Currentzis zu bedenken (viele viele Kampfröchler, Klingeltonanlasser und Designerhandtaschenkramerinnen hielten sich leider nicht daran), bevor nach einer kleinen, aber großartigen Ewigkeit und einer Besinnungspause der inoffizielle Überraschungsteil folgte.
Der vor weniger Besuchern weitermachte, wo das Hauptwerk im Nichts geendet hatte. Das allerdings wäre auch tragisch. Denn dann wäre dieses sensationelle Konzert, das Currentzis mit dem nach seinem Ideal geformten SWR Sinfonieorchester in der Elbphilharmonie gab, um viele hörbare Eindrücke ärmer gewesen.
Ausgerechnet Luigi Nonos 1989 zu Papier gebrachte „Träumerei“ „Hay que caminar“ („Es gibt nur das Gehen“) – zwei weltverlorene, sich aneinander klammernde Violinen (die SWRKonzertmeister Jermolaj Albiker und Vivica Percy), die an drei zu wechselnden Positionen im Großen Saal Musik-Fragmente, Splitter und Schatten in die Ruhe träufelten? Aus der erhabenen Stille, dieser Totenstille kommend, mit der Mahlers episches Adagio 80 Jahre zuvor in Schönstheit verstorben war?
Teodor Currentzis in der Elbphilharmonie: Alle Kanten klar
Mit den extrem leisen letzten Takten, deren Rest-Noten vom SWR-Orchester fast nicht mehr physisch gespielt, sondern nur noch empfunden wurden? Nachdem im Verlauf der Sinfonie das Saallicht wegdämmerte, als stumme Sichtbarmachung des Vergehenmüssens, mit dem Mahler und diese Musik sich anlegen? Für Zumutungen wie diese dramaturgische Meisterleistung ist dieser Saal gedacht und gebaut worden. Solche Konzerte sind nichts für schwache Nerven und zarte Gemüter.
Während sonst schnell und gern der Pauschalvorwurf herausgeholt wird, das Currentzis lieber zweimal zuviel exzentrische Maestro-Mätzchen auf dem Pult veranstaltet als einmal zu wenig, um sich wichtiger zu nehmen als die jeweilige Partitur, war seine Sicht auf Mahlers Neunte, dieses Stück brüchige Brücke zum Jenseits, erstaunlich, konsequent übertreibungsfrei. Das Material, mit dem zu arbeiten war, war schließlich drastisch genug. Er zog nur alle Kanten klar, hart und straff, beschönigte nichts, verharmloste nichts.
Grandios disponierte Orchester spielte stolz und souverän
In den ersten Satz warf er sich und das grandios disponierte Orchester, stolz und souverän spielend, vorbehaltlos. Currentzis rammte dem Stück damit tief das „glühend Messer“ in die Brust, das in Mahlers frühen „Liedern eines fahrenden Gesellen“ besungen wird. Der Ländler im zweiten Satz war waffenscheinpflichtig geschärft und weit vom behaglichen Provinzidyll entfernt.
Das Rondo: eine undurchschaubare musikalische Ideenmasse, immer wieder neue Anläufe heraus aus diesem Chaos nehmend, hin und wieder schwelgend im trügerischen Glücksmoment, immer wieder stolpernd und scheiternd. Und dann das Finale, in das Currentzis seine Orchestermasse erhobenen Hauptes hineinführte, das er anfangs bis zum Anschlag ausreizte. Das Herz dieser Musik blutete aus, doch es schlug und schlug und schlug weiter, bis zur Kapitulation vor dem übermächtigen „morendo“ in den Noten.
Einen Konzertsaal, in dem es Mahlers Neunte in einer Saison gleich fünfmal zu erleben gibt, wird man so schnell nicht finden auf dieser Welt. Einen Dirigenten wie Currentzis, der so zärtlich und so radikal Horizonte erweitert und Mut zur Selbsterkenntnis macht, wohl auch nicht.
Weitere Mahler-9-Aufführungen: 11.2. Concertgebouw Amsterdam, Myung-Whun Chung / 24.3.: San Francisco Symphony, Michael Tilson Thomas / 30.4., 3.5.: NDR Elbphilharmonie Orchester, Alan Gilbert. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Alle ausverkauft, evtl. Restkarten.