Hamburg. Piotr Anderszewski sorgte in der Laeiszhalle für einen Höhepunkt des Konzertjahres. Er spielte Werke von Bach, Schumann und Beethoven.
Das Tastenlöwengetue überlässt er lieber anderen. Die zirkusreifen Anteile des Pianistenberufs haben Piotr Anderszewski noch nie interessiert. Das zeigt er schon beim Auftritt, der eigentlich keiner ist. Im gedämpften Bühnenlicht der Laeiszhalle, ganz in schwarz gekleidet, schlendert er eher an den Flügel, als dass er schreitet. Bloß keine Show, bitte kein Glamour: diese Haltung durchdringt auch das außergewöhnliche, in seiner Dichte und Konzentration ebenso anspruchsvolle wie mutige Programm des Solorecitals in der ProArte-Reihe „Meisterpianisten“.
Spätes, Verrätseltes von Beethoven und Schumann hat Piotr Anderszewski ausgewählt, eingeleitet – und, wie sich im Laufe des Abends herausstellen wird: inspiriert – von drei Präludien und Fugen von Johann Sebastian Bach.
Seine Finger scheinen ins Innere der Tasten hineinzukriechen
Diese Auszüge aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers könnte auch ein eher durchschnittlich begabter Pianist bewältigen. Aber eben nicht so facettenreich spielen wie der 50-jährige Pole mit dem feinen Fingerdruck. Wie er im Es-Dur-Präludium mit der rechten Hand nach und nach den oberen Klangraum des Instruments erkundet; wie er die kontinuierliche Achtelbewegung der Musik, die bei anderen motorisch rattert, einfach fließen lässt, ohne das Pedal zu berühren, ist schon stark. Doch die intimste Tastenstreichelkunst demonstriert Piotr Anderszewski in der gis-Moll-Fuge.
Sie beginnt mit einer einstimmigen Linie, die der Pianist mit einer Fülle an Piano-Schattierungen belebt, bis sie sich nach und nach mit anderen Stimmen umschlingt und verzahnt. Im Reichtum an Klangnuancen und in der Sorgfalt, mit der er das Geflecht durchleuchtet, offenbart sich eine eigene, ganz subtile Art von Virtuosität. Seine Finger scheinen ins Innere der Tasten hineinzukriechen und bisher unerhörte Bereiche zu erkunden. In dieser Kunst des differenzierten Anschlags dürfte er einer der Größten sein.
Anderszewski kostet die dunklen Register aus
Die harmonischen Wagnisse von Bachs Fuge und ihre chromatischen Abzweigungen scheinen bis weit ins 19. Jahrhundert vorauszuweisen. Und siehe da: die sieben Klavierstücke von Robert Schumann in Fughettenform knüpfen direkt bei Bach und dessen Fugen an. Entfernte Epochen wachsen zu einer Einheit zusammen, besonders berückend im fünften Stück, einer Art Kreuzung aus barocker Strenge und romantischer Träumerei. Drei Minuten zarte Klavierpoesie, zauberhaft und viel zu schnell vorbei.
Die zweite Hälfte setzt dort an, wo die erste aufgehört hat: beim späten Schumann. Seine „Gesänge der Frühe“ vereinen Zwielichtstimmungen und hymnische Kraft und geben dem Pianisten reichlich Gelegenheit, sein Faible für milchige Farben und die dunklen Register des Flügels auszukosten. In manchen Phasen des Zyklus – von Schumann ein halbes Jahr vor seinem Suizidversuch geschrieben – scheint der Komponist schon in die Weite des Jenseits zu blicken. Nicht nur in den choralhaften Momenten, die Piotr Anderszewski am Steinway wie nach innen singt.
Empathischer Blick fürs Detail und Gespür für den Fluss des Ganzen
Aber Anderszewski, der sensible Melancholiker am Klavier, kann auch ganz anders. Beethovens schroffe Akzente, im zweiten Satz der Sonate op. 110, meißelt er kantig in die Tasten. Als stählerner Kontrast zum Grundtenor des Werks, in dessen Binnenräumen der Komponist intime Botschaften raunt. Anderszewski lauscht ihnen nach und schält sie feinstfühlig aus den Mittelstimmen heraus: Die sanft voran drängenden Gesten und Vorhalte, die von Schmerz und vom Leid und von der Sehnsucht nach Erlösung erzählen. Auch da vereint er den empathischen Blick fürs Detail immer mit dem Gespür für den Fluss des Ganzen und formt einen großen, organischen Bogen.
Am Ende schließt sich der Kreis, wenn Beethoven seine Sonate mit einer Fuge auf die Zielgerade bringt und damit seinerseits auf Bach zurück schaut. Der Schlusspunkt eines künstlerisch wie dramaturgisch gleichermaßen eindringlichen Abends.
Als Zugaben spielt er Bach und Beethoven
Andere Pianisten wären vielleicht versucht, nach so einem Programm aus der selbst auferlegten Stringenz auszubrechen und noch mal ordentlich Butter bei die Fische zu geben. Aber Piotr Anderszewski bleibt sich und seiner Haltung treu. Auch in den Zugaben verweigert er jedes Tastentheater und beschwört den Reichtum filigraner Strukturen. Mit dem Präludium und der Fuge in dis-Moll aus dem Wohltemperierten Klavier und mit einer der späten Klavierbagatellen von Beethoven. Eine Musik der leisen Andeutungen und gedeckten Farben, die ihre Komplexität als Schlichtheit tarnt, die nichts beweisen muss oder will, sondern die Schönheit in den Zwischentönen sieht. Ganz so wie der Pianist selbst.
Hörempfehlungen: Piotr Anderszewski hat im Laufe seiner Karriere zahlreiche CDs eingespielt, unter anderem 2004 die Bach-Partiten 1, 3 und 6, 2005 ein Album mit Werken von Karol Szymanowski und 2018 die Mozart-Klavierkonzerte Nr. 25 und 27; Infos: anderszewski.net