Hamburg. Der 77-jährige Brasilianer Gilberto Gil bringt den Saal zum Kochen – und kritisiert Jair Bolsonaro mindestens indirekt.

Natürlich kann man diese Musik immer noch toll finden. Man kann sich an Gilberto Gils Konzert vergangenen Sonntag in der Elbphilharmonie erfreuen, hören, wie vielschichtig die Kunst der brasilianischen Musiklegende ist, sich mitreißen lassen von den treibenden Rhythmen und den vertrackten Melodien der Songs.

Was Gil in seiner über 40-jährigen Karriere alles gemacht hat! Bossa Nova („Quatro Pedacinhos“), knackigen Soul („Seu olhar“), ein Cover der afrobrasilianischen Band Olodum („Nossa Gente (Avisa lá)“) als Hommage an den multikulturellen Charakter seiner Heimatstadt Salvador de Bahia! Dass ein 77-Jähriger so offen ist für neue musikalische Einflüsse, dass er hier Reggae spielt und dort Afrobeat und zwischendurch eine traurige Ballade einflicht, mal mit achtköpfiger Band, mal alleine an der Gitarre, das kann einen begeistern.

Gilberto Gil ist nicht nur musikalisch – sondern auch hochpolitisch

Und ein Großteil des Publikums lässt sich begeistern: Spätestens als Gil sich nach einer knappen Stunde vom gesetzten Chansonier in den Rocker verwandelt, als er die akustische gegen die E-Gitarre tauscht, erheben sich die ersten Zuschauer von den Stühlen, bis schließlich eine Polonaise zum treibenden Hardrock von „Ouço“ durch die oberen Ränge zieht. Der Saal kocht, das erlebt man auch nicht alle Tage in der Elbphilharmonie.

Man kann das toll finden. Nur ist nicht mehr alles toll. Gil eröffnet das Konzert mit dem Titelsong seiner aktuellen CD „Ok Ok Ok“, einer Anklage gegen die Giftigkeit der sozialen Medien. Und so erinnert gleich der Beginn daran, dass Gil eben nicht nur ein musikalischer Tausendsassa ist, sondern auch ein hochpolitischer Denker, der von 2003 bis 2008 für die Grünen als Kulturminister in der Regierung Lula da Silvas amtierte.

Eine Polonaise zur Verteidigung der Kunst

Die aktuelle brasilianische Politik erwähnt Gil während des Konzertes nicht, aber durch seine Eröffnung wird klar, dass die leise Melancholie, die sich durch den Auftritt zieht, auf die rechtsgerichtete Nachfolgeregierung unter Jair Bolsonaro zurückzuführen ist. Bolsonaro baut Minderheitenrechte ab, fordert freien Waffenbesitz und hat die Künste zu Feinden erklärt – eine seiner ersten Amtshandlungen war es, das Kulturministerium abzuschaffen, Gils ehemalige Wirkungsstätte.

„Dieser Song ist meine Art, ,Nein!‘ zu sagen“, beschreibt Gil „Ok Ok Ok“, „als Verteidigung der Aufgeschlossenheit.“ Es ist schon richtig, hier durch die Elbphilharmonie zu tanzen – damit die Aufgeschlossenheit nicht vom Entsetzen über den Rechtspopulismus in den Hintergrund gedrängt wird. Eine Polonaise als Verteidigung der Kunst.