Bayreuth . Für die große Chorfuge gibt es wütende Buhrufe. Nach der Premiere werden Solisten und Chor mit gewaltigem Beifall gefeiert.

Ein ältlicher Mann mit steifem Rücken überschätzt seinen Sexappeal und sein Gesangstalent und bringt der mutmaßlichen Angebeteten ein nächtliches Ständchen. Der Krach geht den Nachbarn auf die Nerven. In dieser lustigen altfränkischen Szene der Meistersinger erkennt Regisseur Barrie Kosky in seiner Bayreuther Inszenierung ein ungeheures Gewaltpotenzial. Die Prügelszene wird unversehens zum deutschen Alptraum, zum Pogrom. Beckmesser, so heißt der gespreizte, komische Alte, erhält eine Judenmaske übergestülpt, und ein gigantischer Ballon bläst sich auf der Bühne auf, der die Stürmer-Karikatur eines Judenkopfes zeigt. Koskys Meistersinger-Interpretation ist komplex und verstörend, für die große Chorfuge gibt es auch im dritten Spieljahr wütende Buhrufe, denn sie trifft tief. Nach der Premiere werden Solisten und Chor mit gewaltigem Beifall gefeiert.

Kosky erzählt die Handlung dieser sehr langen Oper auf drei Ebenen: als Wagner’sche Familiengeschichte, Künstlerdrama und Versuchsanordnung, wie in Anlehnung an ein Gedichtzitat von Paul Celan der Tod ein Meister aus Deutschland werden konnte, warum sich die historischen Meistersinger von Nürnberg mit ihren harmlos-übertriebenen Ritualen in einen mörderischen Mob verwandeln.

Täuschend fröhliches Vorspiel bei Wagners unter dem Sofa

Dabei startet das Stück täuschend fröhlich mit einem inszenierten Vorspiel bei Wagners unter dem Sofa. Im Wohnzimmer von Haus Wahnfried treffen sich Franz Liszt und der Dirigent Hermann Levi zum Tee, ununterbrochen werden Pakete angeliefert, klappen Türen auf und zu, ploppen kleine Wagners aus dem Flügel, die ganze Maschinerie der Theaterkomödie läuft wie geschmiert. Man probt den ersten Akt der neuen Oper des Meisters; Wagner macht Levi zum Beckmesser, Liszt zum Pogner und Cosima zur Eva. Dann ist Schluss mit lustig. Am Ende wird die Festwiese zum Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse. Dazwischen liegt nicht nur die Prügelfuge, sondern auch der Wahnmonolog des Hans Sachs als Schlüsselstelle. Beide, Sachs und Stolzing, sind Richard Wagner, einmal der reife Meisterkomponist und einmal der junge Kunstrebell, der die Tochter aus bestem Hause freien will.

Die Personenführung in dieser Inszenierung ist so gut gearbeitet wie selten am Theater. Kosky gelingt es sogar, den riesigen Chor zu individualisieren.

Auf der Bühne sitzt das Beste, was deutsche Kultur hervorgebracht hat

Die Qualität der Sänger entspricht der Fallhöhe der Inszenierung. Michael Volle legt den Wagner-Sachs als großen Suchenden an, als Mann, der ahnt, dass er auf einer Zeitenwende lebt und im Guten wie im Schlechten viel bewegen kann. Der großartige Tenor Klaus Florian Vogt kennt seinen Stolzing in- und auswendig und verpasst ihm stimmlich einige gefährliche Farben. Das ist kein junger reicher Schnösel auf Brautschau, sondern ein Charakter, von dem die Welt noch hören wird. Camilla Nylund ist eine stimmschöne Eva, die selbstbewusst für ihr Glück eintritt. Johannes Martin Kränzle stemmt als Beckmesser einen stimmlichen und darstellerischen Balanceakt, denn sein Merker ist Getriebener und Treiber zugleich, Opfer und Anstifter, ein Ecce homo, über den man sich ärgert und der einen in seiner anmaßenden Verwundbarkeit dauert. Das ist eine herausragende Leistung.

Die Meistersinger sind tückisch, denn die Partitur ist im Festspielhaus als einzige Oper Richard Wagners nur schwer zum Klingen zu bringen. Philippe Jordan, Musikdirektor in Paris und künftiger Musikchef der Wiener Staatsoper, schafft es, die Kleinteiligkeit der musikalischen Charaktere zu einer spannenden Zeitreise durch die Stile von Fuge und Kanon über Repräsentationsfanfaren bis zu Maschinenmusik zusammenzufügen. Das ist ein feines, kluges, sinnliches Dirigat. Und das Finale wird versöhnlich. Barrie Kosky zeigt, wie Utopie geht. Auf der Bühne sitzt das Beste, was deutsche Kultur hervorgebracht hat: Das Festspielorchester stellvertretend für Beethoven und Wagner und die ganze Orchestertradition.