Hamburg. Gleich viermal ausverkauft: Der Tanzabend „Kreatur“ der Berliner Starchoreografin Sasha Waltz begeisterte auf Kampnagel.
Ein bedrohliches Dröhnen erfüllt die riesige Kampnagel-Halle. Noch ist die Bühne dunkel, noch haben nicht alle Besucher ihre Plätze gefunden, aber etwas kündigt sich hier an, ortlos, unbestimmt. Was durch den Umstand, dass sich der Stückbeginn verzögert, nicht weniger beunruhigend wirkt. Man könnte auch sagen: Noch bevor es eigentlich losgeht, fordert die Berliner Choreografin Sasha Waltz das Publikum mit ihrem Stück „Kreatur“. Und das, obwohl Waltz zuletzt nicht immer für massive Publikumsüberforderung bekannt war.
Nackte Körper unter drahtwolleähnlichen Gespinsten
Es ist in der Tanzszene gerade ein wenig in Mode, Waltz doof zu finden: Künstlerisch trete die heute 56-Jährige seit längerem auf der Stelle, liefere mehr geschmackvolle Bilder zu großen Themen als dass sie den Tanz weiterentwickle. Dem entgegen steht die Tatsache, dass Waltz beim Publikum erfolgreich ist wie nie (auch in Hamburg sind alle vier Kampnagel-Abende seit langem ausverkauft), und dass sie bei konservativeren Tanzfans bis heute als Gottseibeiuns gilt: Als bekannt wurde, dass die Choreografin ab kommenden Sommer gemeinsam mit Johannes Öhmann das Berliner Staatsballett leiten wird, liefen die Verfechter einer traditionellen Ballettästhetik Sturm. Man sollte es nicht also so einfach machen, Waltz als augenfreundliche Kulinarikerin zu schmähen, auch beim 2017 entstandenen „Kreatur“ nicht.
Das startet jedenfalls mit einiger Verspätung spektakulär. Einzelne Tänzer trippeln zögernd auf die Bühne, nackte Körper unter drahtwolleähnlichen Gespinsten. Wer lästern möchte, der hat jetzt schon Gelegenheit, sich über tanzende Wattebäusche zu mokieren, aber die von Stardesignerin Iris van Herpen entworfenen Kostüme kann man auch anders lesen: als Kokons, aus denen sich die Performer langsam zu schälen beginnen.
Die Kreaturen suchen zaghaft nach Gemeinschaft
Der Einstieg entwickelt sich so zur Geburtsszene, zu einem Schöpfungsbild gar, in dem sich Lebewesen zaghaft in die Welt bewegen, unsicher, kriechend, kreatürlich. Der Tanz ist zu diesem Zeitpunkt noch ganz minimalistisch gehalten, kaum spürbar eigentlich. Aber beim genauen Blick bemerkt man die Konzentration der Tänzer, hier ein angespannter kleiner Zeh, dort ein Flimmern im Augenwinkel – Waltz arbeitet trotz aller kreatürlichen Derbheit sehr streng, sehr genau.
Das Bild des Kokons prägt die folgenden 90 Minuten von „Kreatur“. Und markiert so ein Problem: Mehrdeutig, unklar, womöglich abstrakt ist hier nichts, jedes Bild lässt sich ziemlich genau entschlüsseln. Die Kreaturen also suchen zaghaft nach Gemeinschaft, die Gemeinschaft formiert sich zum Kollektiv, identifiziert Außenseiter, bildet Aggressionen. Das ist mal schön, mal verstörend, aber es ist immer eins zu eins. In einer Szene drängeln sich die Tänzer auf einer engen Treppe, da ist dann zuviel Kreatur auf zu wenig Platz, es hilft nichts: Jemand muss in den Abgrund stürzen, ein bisschen Schwund ist immer. Und dass das atemberaubend gut getanzt ist, ändert nichts daran, dass der Abend sich mit Denken nicht überanstrengen möchte.
Konservativ ist Waltz’ Ästhetik nicht
Schön aber, wie Waltz ihrem Ensemble die eigenen Charaktere zugesteht. Auch im zeitgenössischen Tanz setzt sich häufig eine gewisse Gleichförmigkeit bei den Tänzerpersönlichkeiten durch, Sasha Waltz Guests aber sind durch und durch divers. Man sieht unterschiedliche Hautfarben, Tätowierungen werden nicht überschminkt, eine Tänzerin ist schwanger. So ein Anblick kann ein an ein homogenes Corps de Ballett gewohntes Tanzpublikum schon verunsichern – konservativ ist Waltz’ Ästhetik jedenfalls nicht.
Das Schlussbild ist eine Utopie: Die kollektive Kreatur entdeckt Liebe, Lust, Sexualität in unterschiedlichen Spielarten. Was berückend schön daherkommt und musikalisch ausgerechnet mit Serge Gainsbourgs Schlafzimmer-Heuler „Je t’aime … Moi non plus“ untermalt wird. Das ist natürlich wieder eine Überdeutlichkeit, wie sie dem Abend häufiger unterläuft. Es sei denn, Waltz outet sich hier als Ironikerin, die einrechnet, dass sich in Gainsbourgs „Ich liebe dich … Ich dich auch nicht“ eine fiese Spitze gegen die Gesprächsunfähigkeit unter Liebenden versteckt. So etwas allerdings wäre wirklich überraschend.