Hamburg. Kent Nagano dirigierte zur Eröffnung ein herzzerreißend hartes Programm, das Extreme nicht scheute, sondern sie betonte.

Die Überlänge-Lektion in Gottesfurcht und Zuversicht begann mit einem verstörenden Grundrauschen aus tiefschwarzen Tönen. Kaum wahrnehmbar löste es sich von der vorweggenommenen Grabesstille, man spürte: Gleich passiert etwas Unaufhaltsames, und gut wird das garantiert nicht enden. Wie giftiger Bodennebel waberten und brodelten die ersten Text-Silben der vierfach geteilten Chor-Bässe, mit denen Ligetis „Requiem“ in die letzte Nacht zieht, durch den Großen Saal.

Unbarmherziger, trostloser als mit diesem zeitlosen Schmerz kann eine Totenmessen-Komposition wohl kaum beginnen. Dass dieses Meisterwerk der Moderne mehr als halbes Jahrhundert alt ist, war schnell vergessen. In diesem Offenbarungs-Raum klang auch das mit, was nicht real in ihn hineingespielt wurde. Und diese Nuancen der Zurückhaltung waren beeindruckend. Die Philharmoniker bewältigten die Herausforderungen der Partitur mit einer Gründlichkeit, als wären sie auf den Umgang mit zeitgenössischen Klassikern abonniert. Die Klangschlieren, die Ligetis Tonsprache in den 1960ern so überirdisch schillern und den Rhythmus zerfließen ließen, das jähe Hin und Her im Collagen-Bauplan der feinstverästelten Musik - all das wurde so zum sehr gegenwärtigen Hör-Abenteuer.

Nagano dirigiert hartes Programm, das Extreme nicht scheute

Generalmusikdirektor Kent Nagano dirigierte zur feierlichen Eröffnung des Musikfests 2019 den Ligeti-Klassiker als die pechschwarze Seite eines herzzerreißend harten Programms, das Extreme nicht scheute, sondern sie betonte. Mehr als zwei Stunden später sollten rund 2000 Menschen im gleichen Raum mit dem Finale von Mahlers Zweiter Sinfonie das strahlende Gegenstück erleben: „Du wardst nicht umsonst geboren! Hast nicht umsonst gelebt, gelitten!“, sollte die Sopranistin Sarah Wegener über die Massen aus dem Arnold Schoenberg Chor und dem Staatschor Latvija, das ganze heilige Glocken-Bimbam, die euphorisch durchdrehenden Trompeten-Fanfaren und das aufmunternde Dröhnen der fürs Happy End aufgesparten Orgel hinweg singen, frohlocken und: trösten.

Danach, spätestens nach dem letzten „Zu Gott wird es dich tragen“ war rund 2000 Menschen durch eine denkwürdige, anstrengende Programmkombination klar geworden, dass Mahler und Ligeti, zwei geniale, unbequeme Wanderer zwischen Welten und Überzeugungen, letztlich Glaubens-Brüder im Geiste waren.

Musikfest-Motto ist "Identität"

Um Verwandtschaften anderer Art war es am früheren Abend gegangen. Im Kleinen Saal fand der Auftakt-Empfang statt, bei dem auch lohnend über das Musikfest-Motto „Identität“ nachgedacht wurde. Carsten Brosda, Kultursenator und Schalke-Fan, schaffte gekonnt alle rhetorischen Volten, um vom identitätsstiftenden Glück der Zivilreligion Fußball zur kleinen Seligkeit des Moments angstfreien, erhellenden Miteinanders zu kommen.

Nach ihm grübelte der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss, ganz anders raffiniert, über die Zusammenhänge von Üben und Spielen nach und auch darüber, was Funktionen aus Menschen machen können. Und ob sie es sollten.

Bei der Aufführung war nicht alles perfekt

Es war nicht das erste Mal, dass Mahlers monumentale „Auferstehungssinfonie“ in der Elbphilharmonie erklang, vor gut zwei Jahren hatte sie der damalige NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock bereits (ebenfalls mit einigen, aber anderen Mühen in der Umsetzung) ins Rampenlicht gestemmt. Die damalige „Urlicht“-Solistin Gerhild Romberger war wieder dabei und auch diesmal durch ihre innige, warm fließende Intensität ein Fixstern in der Aufführung.

Auch bei dieser Aufführung war in der Umsetzung nicht alles perfekt: Dem hohen Blech hörte man die Dauerstrapazen schon vor der Zielgerade ins Paradies an; manche Stimmungswendungen, wenn neue Themenkomplexe sich entfalteten, wirkten unklarer als der sichere Umgang mit den Detailverläufen der folgenden Sinnsuche-Episoden. Wo immer sich an den schroffen Bruchkanten bei den jähen Zusammenbrüchen der geduldig aufgebauten Ideen-Architektur die Gelegenheit zum formschönen Exzess geboten hätte, hielt Nagano sich zurück. Klarer, mitunter etwas zu klarer Kopf, klare Kanten, respektvolle Eleganz im Ausdruck statt Lust am gerade noch im Griff behaltenen Überdruck.

Naganos Mahler beeindruckte, überrollte einen jedoch nicht

Das Adagio-Idyll zeichnete Nagano lieblich verträumt nach, die ironischen Brechungen im dritten Satz hätten drastischer sein dürfen, um die existenzielle Zerrissenheit schonungsloser zu zeigen und sie nicht nur wie ein Rechenergebnis zu behaupten. Naganos Mahler beeindruckte ungemein, doch er überrollte einen nicht. Andererseits aber war seine Präzision in der gestaltenden Kontrolle der Abläufe und der Balance des größeren Ganzen bezwingend und straff durchorganisiert. Fernorchester hinter der Bühne, der Riesen-Chor, die Solistinnen, Trompeten in drei Himmelsrichtungen verteilt – alles offenbar kein Kontroll-Problem.

Derartig übermächtige Brocken liegen diesem Dirigenten, das ist längst nicht mehr neu, aber immer wieder beeindruckend, weil diese erzieherische Konzentration sich unmittelbar aufs Publikum übertrug. Und das Beste: Aus Konzerten wie diesem kommt man klüger heraus, als man sie betreten hat. Nächste Ligeti-Termine beim Musikfest: Am 2.5. spielt Pierre-Laurent Aimard die „Études pour piano“. Am 10., 12. und 13.5. bringen Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie Orchester die Ligeti-Oper „Le Grand Macabre“ szenisch auf die Bühne des Großen Saals. Alle Konzerte sind ausverkauft, evtl. Restkarten an der Abendkasse.