Hamburg. Die New Yorker Bestsellerautorin stellte im Schauspielhaus ihren neuen Roman „Damals“ vor. In der Hauptrolle: „S.H.“

Die Erinnerung ist ein Biest. Die Erinnerung schleicht sich ein, behauptet, gestaltet, verändert. Mit der Wahrheit, mit dem also, was tatsächlich passiert ist, hat sie durchaus zu tun. Mit der Vorstellungskraft allerdings auch, und bisweilen nicht zu knapp.

„Damals“ heißt der aktuelle Roman von Siri Hustvedt (im Englischen trägt er den noch ein bisschen schöneren Titel „Memories of the future“) – und den ersten Satz, den die New Yorker Autorin während ihrer Lesung auf der Bühne des nahezu ausverkauften Schauspielhauses sagen muss, spricht sie besonders deutlich aus: „Es. Ist. Keine. Autobiografie.“ Sie lächelt nachsichtig dabei. Oder vielleicht auch ein wenig genervt. „Frauen traut man es oft nicht zu, sich etwas auszudenken“, hat sie festgestellt. Und natürlich spielt sie in diesem Roman ganz bewusst mit ihren Lesern und Leserinnen, wobei letztere, jedenfalls im Schauspielhaus, in der Überzahl sind.

Die Autorin hat so manches mit ihrer Heldin gemeinsam

Dass Siri Hustvedt mit ihrer Heldin verwechselt wird, ist also durchaus beabsichtigt, die beiden haben einiges gemeinsam: „S.H.“ lauten die Initialen der Protagonistin – wie in „Siri Hustvedt“ eben, aber auch wie in „Sherlock Holmes“ oder in „Standardheldin“. S.H. kommt 1978 aus der amerikanischen Provinz nach New York, um dort, an der Columbia University, Literatur zu studieren und Schriftstellerin zu werden.

Eine große, nordisch blonde, schlanke Frau, Spitzname: Minnesota. Sie zieht in ein Appartement, das, wie es sich fügt, exakt dieselbe Adresse hat wie Siri Hustvedts tatsächliche erste New Yorker Bleibe, denn auch die große, unübersehbar blonde Erfinderin von S.H. zog Ende der 1970er-Jahre nach New York, um an der Columbia University Literatur zu studieren. Aus Minnesota.

Gemein. Und ziemlich lustig.

Siri Hustvedt wendet sich im Text ganz offensiv an ihre Leser

Bücher haben es an sich, dass aus ihnen die Toten zu den Lebenden sprechen können. Und das frühere Ich ihrer Autoren zu jenen Menschen, die aus ihnen geworden sind. Und die Autorin wiederum wendet sich im Text ganz offensiv an ihre Leser: „Ist dieses Buch, das Sie gerade lesen, meine Suche nach einem Ziel, das Damals heißt?“ Hustvedt spielt gekonnt auf diversen Ebenen. Sie schreibt ein Porträt der Künstlerin als junge Frau – und zugleich über die spätere S.H., die ihr Tagebuch findet und mit eigenen Erinnerungen hadert, während sie ihre dement werdende Mutter im letzten Lebensabschnitt begleitet.

Ein Prozess, der noch einmal verdeutlicht, wie sehr wir als Menschen Erinnerungen brauchen, wie sehr wir im Grunde Erinnerungen sind. Und weil die junge Frau, „Minnesota“, in New York mit dem Schreiben beginnt („Sie war auf eine Geschichte aus, die in ihr sang“), findet auch diese Geschichte ihren Weg ins Buch, als Roman im Roman. Federleichte, vergnügliche Hustvedt-Zeichnungen ergänzen den mehr als 430 Seiten starken Band, ein visuelles Innehalten.

Es ist komplex, zugegeben. „Damals“ ist vielschichtig, anspielungsreich, oft essayistisch und geschickt komponiert. Das Entscheidende ist vielleicht: Die Figuren sind in ihrem Bemühen um Selbsterforschung wahrhaftig. Gern folgt man dieser Frau, wie sie über Lust und Schmutz schreibt, an Wohnungswänden lauscht, Lebensmittel aus Mülleimern fischt, schräge Vögel auf Partys trifft.

Parallel zum Roman erscheint ein Essayband

Die Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau ist dabei ein prägendes, immerwährendes Hustvedt-Thema. Parallel zum Roman, der weibliches Verhalten reflektiert und vor allem aber männliches Verhalten gegenüber Frauen beleuchtet, erscheint bei Rowohlt der Essayband „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“.

Dass es der norwegische Autor Karl Ove Knausgård war, der einst fand, „Lesen ist weiblich, schreiben ist männlich“, bringt Hustvedt in ihrer Hamburger Lesung zu einem lächelnd fassungslosen Kopfschütteln, das in seiner Milde böser wirkt als es Empörung je vermochte. „Er ist ja nicht der Feind“, sagt sie sanft, „er hat es wahrscheinlich längst vergessen.“ Sie nicht. Schon im ersten Kapitel von „Damals“ findet sich ein Satz, der allerbestens als Seitenhieb taugt auf Kollegen wie Knausgård, der sich bekanntermaßen besonders detailbesessen der eigenen Vergangenheit widmet: „Den Autoren, die noch Jahrzehnte später eine perfekte Erinnerung an ihre Kartoffelpuffer zu besitzen behaupten, ist nicht zu trauen.“ Autsch.

Die Männer im Roman sind – anders als die aufregenden Weggefährtinnen – oft eher keine Sympathieträger. Der Vater, ein Arzt, gesteht seiner Tochter in großer, unfreiwillig herablassender Liebe zu, sie werde sicher „eine gute Krankenschwester“, als sie das halbe Anatomiebuch auswendig lernt. Dabei will sie eine Heldin sein. „Ich bin keine Heldin. Ich bin ein Mädchen, und das ist bitter.“

Es ist Hustvedts literarischer Beitrag zur #MeToo-Debatte

Immer wieder schildert sie Übergriffigkeiten, eine Schlüsselszene ist die Beinahe-Vergewaltigung durch eine Partybekanntschaft. Eine schrullige Nachbarin, die übrigens auch sonst eine kuriose Hauptrolle spielt, verhindert die Vergewaltigung, noch Jahre später aber bewirkt die Erfahrung Flashbacks. Es ist, wenn man so will, Hustvedts literarischer Beitrag zur #MeToo-Debatte, der keinerlei Zweifel am Täter mit seinem „Bleistiftschwanz“ lässt und dennoch die Schuldgefühle des Opfers erklärt.

Mit großer Zärtlichkeit liest Siri Hustvedt am Schauspielhaus aus ihrem Roman. Hingebungsvoll folgt sie dem Klang und Rhythmus der eigenen Sätze, es ist ein höchst sinnlicher Umgang mit Sprache, den sie pflegt, zugleich ironisch und hintergründig. Moderator Jan Ehlert (NDR Kultur) ist exzellent vorbereitet, Schauspielhaus-Ensemblemitglied Julia Wieninger gibt den deutschen Passagen eine warme, klare Stimme.

„Was war, ist, und was ist, war“, schreibt Siri Hustvedt

„Erinnerung und Imagination gehören zusammen“, sagt die Schriftstellerin. Nicht alles lässt sich entwirren; einiges war so, anderes könnte so gewesen sein. Gefühle überdauern die Zeit, manchmal. „Was war, ist, und was ist, war“, schreibt Siri Hustvedt. Oder S.H., wer weiß. Ihre Lesung im Schauspielhaus zum Beispiel, schon jetzt eine Erinnerung.