Hamburg. Der russische Pianist Yevgeny Kissin begeistert das Hamburger Publikum mit intellektueller Arbeit – und bleibt ruhig bei einem Störer.

Einfach hat Yevgeny Kissin es nichts und niemandem gemacht. Weder sich selbst noch der eigenwilligen Musikauswahl in ihrer kalkulierten Wirkungsabfolge, und von Zugeständnissen an die Publikumserwartung hat er bei diesem Abend ebenfalls mit freundlicher Zielstrebigkeit Abstand gehalten. Ein Klavierabend mit dem reifen, angenehm anstrengenden Kissin, das ist längst kein oberflächlich bestaunenswertes Beisammensein mehr. Das ist intellektuelle Arbeit, für alle, bei und trotz allem Hör- und Spiel-Vergnügen. Große, schwere, horizonterweiternde Klavier-Kunst eben, die dabei ganz leicht klingt.

Wer so ernüchternd wie Kissin auf Chopin-Nocturnes eingeht, dann aber über eine euphorisch ausufernde Schumann-Sonate zu virtuos entnebelten Debussy-Miniaturen kommt, um mit wild funkelnder Skrjabin-Exzentrik zu enden, der will nicht mehr bedingungslos allen und ständig gefallen. Der will, dass man sich vom Gespielten überzeugen lässt, und das Überwältigende der pianistischen Brillanz ist in dieser Denkweise bereits eingepreist und Mittel, nicht mehr Zweck.

Deswegen hat Kissin bei seinem Recital in der Laeiszhalle mit drei Chopin-Nocturnes begonnen, die er behutsam, aber bestimmt auf dem Boden der Tatsachen hielt, anstatt beschaulich ins Gefühlige wegzudämmern. Natürlich war die Phrasierung bestens, das Mit- und das Gegeneinander der Ideenverläufe stand klar zur Begutachtung im Halbdunkel des Saals, ein wenig entzaubert und ungesüßt geradezu. Anderererseits: warum eigentlich nicht? Warum nicht mal eben kein Make-Up aus Gefühligkeit und romantisierendem Plauderton? Schon diese Stücke strahlten Ernst und den Willen zur fordernden Weiterentwicklung aus.

Handy klingelt gleich zweimal

Bei Schumanns op. 14 in der neu durchdachten zweiten Fassung gelang Kissin das Kunststück, einerseits dem manischen Einfalls-Mitteilungsdrang des Komponisten freien Lauf zu lassen, andererseits aber penibel darauf zu achten, deswegen das strukturelle Denken und das Formen dieser Sonate nicht einzustellen. Ein Drahtseilakt, bei dem Kissin so stur wie elegant auskostete, was so gerade eben noch ging.

Und auch hier, nur gänzlich anders, beeindruckte er mit raffiniert ausgewogener Anschlagsdisziplin. Kein Moment, in dem dieses Kartenhaus aus Motiven und ihren Verwirbelungen in sich zusammenzufallen drohte, weil mit dem Mann am Klavier die Nerven durchgingen. Er blieb tatsächlich auch ruhig, als tatsächlich ein und dasselbe Handy zweimal ins Konzert hineinbimmelte.

Keine Unwucht im effektvoll inszenierten Stürmen und Drängen Schumanns, aber auch hier kein Abkippen ins selbstverknallte Virtuosengewese. Wie Kissin die verzweifelt fatalistischen Schlussakkorde im dritten Satz abdunkelte, durchlitt und als unmittelbare Botschaft Schumanns an Clara Wieck dechiffrierte, das war ein Beziehungs-Drama auf engstem Raum. Und im Finalsatz bewegte sich Kissin gekonnt zwischen Raserei und Abgrund, stets mit klarem Kopf und blutendem Herz.

Kissin überzeugt mit schlichter Eleganz

So weit, so komplex. Doch danach kam ein Drittel der 24 Debussy-Préludes, handverlesen auf ihre Klangsinnlichkeit hin, bei Kissin allerdings ganz und gar ohne Weichzeichner, ohne dieses wohlige Aroma flirrender Uneindeutigkeit. Eine Absage ans Impressionismus-Klischee, das bei Debussy oft überdeckt, wie subtil und punktgenau diese Musik aus sich heraus strahlen kann.

Klare Kanten also, Debussy-Meisterwerke, denen man, so offenbar Kissins Meinung, diese kompositorische Meisterschaft unbedingt bis ins Detail anhören sollte. Allerliebst verträumt: die schlichte Eleganz in „La fille aux cheveux de lin“, eine Skizze nur, hauchfein und souverän ausgeschwungen; und der Klavierton, der beim Schumann noch markant und intensiv war, war nun, in den luftig leichten Episoden, grazil und hell.

Eine Ouvertüre zum finalen Noten-Feuerwerk

Bei "La Cathédrale engloutie" inszenierte Kissin die extremen Gegensätze mit konzentrierter Ruhe und Gelassenheit. Das angejazzte Spielen mit Synkopen in „Général Lavine“ war eine schöne Ouvertüre zum finalen Noten-Feuerwerk in „Feux d’artifice“, wo Kissin mal eben, als wäre das ganz einfach, die Virtuosenpranken ausfuhrt. Wo er mit absoluter Treffsicherheit hielt, was dieser Titel versprach und gleichzeitig auf den verführerisch irrlichternden Skrjabin-Abschluss einstimmte.

Denn in dessen Sonate Nr. 4 ballte und entlud sich in wenigen Minuten alles, womit Kissin im Verlauf des Abends so gekonnt jongliert hatte: Zunächst der Spaß am freien Fabulieren im ersten Satz, wo noch nichts klar war außer den Anspielungen auf Wagners berühmt-berüchtigten „Tristan“-Akkord und nichts unmöglich, gefolgt vom rauschhaften „Prestissimo volando“.

Kissin spielte das Ding runter wie Liszt auf Speed, als Blick in eine sonderbares, wild schillerndes Paralleluniversum aus dröhnend tobenden Tönen – um dann, mit Schumanns „Träumerei“ als erster von drei Zugaben, zum Abschied in den Alltag eine ganz kleine, feine Geschichte zu erzählen.

CD-Tipp: Evgeny Kissin: Beethoven Recital. Klaviersonaten Nr. 3, 14, 23, 26, 32 (DG, ca. 15 Euro).

Publikumsstimmen

Reynard Steifensand, Hamburg: „Ich fand es wunderbar, ich habe gar nicht gewusst, dass man auf dem Klavier so eine Musik machen kann.“

Dagmar Schulz, Hamburg: „Besonders den Schumann fand ich beeindruckend. Alles in allem bin ich mittelglücklich über diesen Klavierabend, des Programms wegen. Bei manchen Konzerten bin ich völlig weg und begeistert, hier war das nicht so.“