Hamburg. „Tina“-Musical sorgt bei Premiere für Begeisterung. Und für emotionale Momente, als der Superstar selbst auf der Bühne erscheint.
„River Deep – Mountain High“, tiefste Tiefen und höchste Höhen. My, oh my! Als sich der Vorhang bei der Medien-Vorpremiere von „Tina – Das Tina Turner Musical“ am Sonnabend im Operettenhaus senkt, sind die Besucher so bewegt und hingerissen wie schon lange nicht mehr bei einer Hamburger Musicalaufführung. Was hat Tina Turner, geborene Anna Mae Bullock, alles ausgehalten im Laufe ihres Lebens und ihrer Karriere.
„Rocky“ stand ein paar Runden im Ring. „Tina“ hingegen mehr als 40 Jahre, bis sie „The Best“ war.
Zur Premiere in Hamburg kommt Tina Turner selbst
Das Publikum, bei Medienpremieren gern ein wenig kritischer, steht und klatscht, so wie es schon bei Beginn der Aufführung und zwischendrin immer wieder jubelt, schreit, lacht. „Tina, Tina!“-Rufe erschallen, der Vorhang hebt sich wieder, und da steht sie tatsächlich: die echte Tina Turner, mit Pelzkappe und im dunklen Hosenanzug. Der Star bedankte sich beim Ensemble und lobte Kristina Love: „You did a great job.“
Zum Gala-Abend am Sonntag waren auch viele Prominente wie die Schauspieler Jannik Schümann, Tetje Mierendorf oder Dragqueen Olivia Jones gekommen. Auch Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit und die Moderatoren Jörg Wontorra und Gerhard Delling waren begeistert.
Es hagelt von Ehemann Ike Schläge für Tina
Die Lebensgeschichte von Anna Mae Bullock, geboren 1939 in Nutbush, Tennessee, ist oft aufgeschrieben und verfilmt worden. Aber so verdichtet, so mitreißend erzählt und präsentiert wie in „Tina“ ist die Turner-Story eine wahre Achterbahnfahrt, bei die eingangs erwähnten Höhen und Tiefen sich nicht nur abwechseln, sondern sogar gleichzeitig zu erleben sind.
Während Ike und Tina Turner sowie ihre Tänzerinnen, die Ikettes, „I Want To Take You Higher“ von Sly & The Family Stone als wilde Soul-Rock-Show aufführen, hagelt es Schläge für Tina, schießt das Koks in Ikes Nase wie der Teufel in die Seele. Im Zeitraffer: der Aufstieg auf der Bühne und der Abstieg backstage. Zwei Kurven, die beide ganz unten enden werden. Mitten im Hit „Proud Mary“ verlässt Tina ihren Mann Ike, mit 36 Cent in der Hand, um ein Motelzimmer bettelnd.
Wie aus Anna Mae Bullock Tina Turner wurde
Bis dahin ist Anna Mae Bullock ein Mädchen, das einfach nur singen will. Im Baptistenchor findet sie als kleines Mädchen nach dem Baumwollpflücken ihr Glück, während ihr Vater erst ihre Mutter und Schwester vertreibt, um sich dann selbst aus dem Staub zu machen. Nur die Großmutter ist für sie da, bis Anna nach St. Louis zu ihrer Mutter zieht und mit Schwester Alline durch die Nachtclubs tanzt. Dort begegnet sie dem „Fool In Love“, Ike Turner und seiner Band Rhythm Kings. Ike hat 1951 mit dem Song „Rocket 88“ den Rock’n’Roll erfunden, aber erst als er Anna Mae 1957 in sein Ensemble aufnimmt, sie fortan Tina Turner nennt und sowohl optisch als auch künstlerisch nach seinen Vorstellungen formt und drillt, kommt der Erfolg.
Dennoch müssen sie sich vor weißen Hinterwäldlern und der Polizei hüten. Und Hotels, die Schwarze aufnehmen (auch Thema im Oscar-Sieger „Green Book“), gibt es im Süden der USA wenige. Sie sind Rhythm&Blues-Stars, die im Freien schlafen. Und lieben. Band-Saxofonist Raymond ist der Vater von Tinas erstem Sohn Craig.
Höhepunkte des "Tina"-Musicals gibt es viele
Das alles ist im Musical mit schnellen, aber fließenden Übergängen und in einem stimmigen Bühnenbild inszeniert. Regisseurin Phyllida Lloyd („Mamma Mia!“), Choreograf Anthony van Laast und Autorin Katori Hall haben im April 2018 in London und jetzt in Hamburg ein Musical auf die Bühne gebracht, das auch Genre-unübliche Themen wie Rassismus („Abgehalfterte Neger-Oma“ wurde Tina noch in den 80ern von Plattenbossen genannt) sowie Gewalt gegen Frauen und Kinder behandelt.
Höhepunkte, und davon gibt es nicht wenige, sind aber die Konzertszenen, in denen die fantastische Hauptdarstellerin Kristina Love ganz Tina Turner sein kann. Die explosive, dynamische, überirdisch singende Tina. Nach der Trennung von Ike (Mandela Wee Wee) und einem Dasein als Putzfrau und verschuldetes Soul-Relikt in Las Vegas, dem „Friedhof der Stars“, findet sie sich wieder: mit Hilfe mutiger Plattenfirma-Scouts und einer neuen Liebe, ihrem jetzigen Ehemann Erwin Bach (Simon Mehlich). Neuer Look, neuer Sound, neuer Anlauf mit „What’s Love Got To Do With It“, „Private Dancer“ und „We Don’t Need Another Hero“. Aus der Gosse steigt Tina Turner auf in die großen Stadien der Welt.
Songs wie "Private Dancer" wurden für das Musical ins Deutsche übersetzt
Leider wurden „Private Dancer“, „We Don’t Need Another Hero“ und einige weitere Lieder für die Hamburger Version des Musicals ins Deutsche übersetzt. Ein üblicher Vorgang, der den Kreis der potenziellen Kartenkäufer erweitern soll. Bei einem Musical wie „Mamma Mia!“ mag das funktionieren, weil es kein biografisches Stück ist.
Tinas Songs und ihre Lebensgeschichte hingegen gehören nicht nur in diesem Musical eng zusammen. Sie sind für viele ihrer Fans Inspiration und Kraftquelle. Diese Fans sind mit den Originalen aufgewachsen, und nicht selten ist im Publikum bei den ersten Takten der deutschsprachigen Versionen erst Erwartungsfreude und dann leichte Enttäuschung zu verspüren. Man möchte mitsingen, wird jedoch mit ungewohnten Texten konfrontiert.
Kristina Love als Tina Turner reißt das Publikum von den Sitzen
Das betrifft in gewisser Weise auch Kristina Love. Wenn sie „Ich werde weiter tanzen“ („Private Dancer“) singt, bewegt sie sich stimmlich im Musical-Rahmen, konzentriert darauf, keinen sprachlichen Fehler zu machen. Steht sie aber im Laufe der Handlung im Studio von Produzent Phil Spector oder im Maracanã-Stadion vor 180.000 Zuschauern und singt „River Deep – Mountain High“ oder „The Best“ im Original, dann wandert Tina Turners Seele in Kristina Love.
Gestik, Mimik, Ausdruck, Tanz, Gesang, Ausstrahlung. Plötzlich spielt sie in einer ganz anderen Liga, reißt das Publikum von den Sitzen, verzückt, begeistert. Die gewiss nicht leichte Aufgabe, vor den Augen der realen Tina Turner zu bestehen, meistert Love mit Bravour.
Tina Turner bleibt „Simply the Best“
Auch weitere Figuren wurden gut besetzt, etwa Tinas langjährige Managerin und Freundin Rhonda Graam, die von Sarah Schütz gespielt wird. Ihr Duett mit Love überzeugt tatsächlich auch auf Deutsch. Graam wurde 1981 von Musik-Perlentaucher Roger Davies (Cher, Janet Jackson, Pink) abgelöst, den im Musical Nikolas Heiber gibt. Davis war der Einzige, der noch an Tina Turner glaubte. Und wie er sie zu einem Stilwechsel brachte, wird im Stück so anschaulich wie witzig erzählt. Mandela Wee Wee, als Ike Turner vielleicht mit der undankbarsten Rolle, dürfte gesanglich noch ein paar Abende brauchen, um sich zu finden.
Drama, Stürze, erschütternde Wahrheiten, Liebe, Humor und Spielfreude: Die wichtigsten Musical-Zutaten bietet „Tina“ im Übermaß, dazu eine unschlagbare Kombination aus R&B- und Soul-Klassikern, Rock’n’Roll-Nummern und Tinas Solo-Hits. Und dass die gesundheitlich seit Jahren sehr stark angeschlagene Tina Turner Hamburg die seltene Ehre öffentlicher Auftritte erwiesen hat, verdient einen Extra-Applaus. Sie bleibt eben simply the Best.
Besucherstimmen zur "Tina"-Premiere:
Kathrin Bangert, Sternschanze: „Das Musical war für mich wie ein Livekonzert von Tina Turner, großartiges Bühnenbild, tolle Kostüme. Bei den deutschen Versionen von Tinas Songs war ich vor der Show noch sehr kritisch, aber die haben mich überzeugt.“
Susanne Jordan, Uhlenhorst: „Es war unbeschreiblich toll. Eigentlich muss ich das Stück noch mal in London anschauen, um alle Lieder im Original auf Englisch zu hören, das wäre ein Traum. Besonders herausragend ist die Geschichte, die nicht die üblichen Disney-Klischees erfüllt.“
Melanie Wentorf, Hoheluft-West: „Ich bin durch meinen Vater mit Tina Turners Musik aufgewachsen. Schon ohne das „Livekonzert“-Finale ist das ein tolles Stück, das Ende setzt noch einen drauf. Und als Tina auf die Bühne kam, habe ich geweint.“