Hamburg. Die Hamburger Band überzeugte beim ausverkauften Heimspiel und bot mehr als nur hymnischen Gitarrenrock.
„Kettcar?“ fragt der hipsterkluge Kollege erstaunt. „Was interessiert dich denn an diesen dauerbetroffenen Becks-Trinkern?“ Tatsächlich ist der Coolnessfaktor des Quintetts um Sänger Marcus Wiebusch übersichtlich: eine reine Jungsband, die ihre Wurzeln im Punk mit Singer/Songwriter-Strukturen und elektronischen Elementen angereichert hat. Tja.
Natürlich macht man mit hymnischem Gitarrenrock heute keine Punkte mehr. Aber Kettcar kann auch anders. Das Konzert im ausverkauften Mehr! Theater eröffnete die Band eben nicht mit einem Kracher, sondern mit „Rettung“ vom weitgehend akustischen Album „Zwischen den Runden“ (2012), dessen vertrackter Rhythmus leider wie so häufig in den Betonhallen am Großmarkt im undifferenzierten Sound versumpfte. Da mochten die Kompositionen noch so ausgefeilt sein, da konnte die dreiköpfige Bläsersektion noch so charmante Akzente setzen: Was im Mehr! Theater funktionierte, waren vor allem die Bretter, „Money left to burn“, „Deiche“, „Landungsbrücken raus“. Vielleicht rührt daher das Vorurteil, dass Kettcar spezialisiert sei auf unterkomplexe Mitsinghymnen.
Natürlich wird auch „Der Tag wird kommen“ gespielt
Immerhin, ab dem Fußball-gegen-Homophobie-Statement „Der Tag wird kommen“ von Wiebuschs Soloplatte „Konfetti“ gewann der Sound an Kontur, gingen schwere Beats, elektronische Signale und ein den Bass doppelndes Sousaphon eine glückliche Verbindung ein.
Die Schlenker des satten Indierocks in angrenzende Genres wurden von da an ebenso deutlich wie die klugen, oft szenisch konstruierten Texte Wiebuschs; Gelegenheit für filmische Videoclips, die zurückhaltend aber wirkungsvoll während des Konzerts hinter der Bühne flimmerten.
Es geht um das Einreißen von Grenzen
Mit Eins-zu-eins-Interpretationen kam man trotz allem Szenischen nicht weit. Der Hit „Sommer ’89“ etwa wurde bei Erscheinen 2017 noch als Wiedervereinigungspatriotismus missverstanden, Wiebusch stellte klar, dass sein Text über eine Flucht aus der DDR vor allem vom Einreißen von Grenzen handle: „Menschenrechte sind nicht verhandelbar!“ Für immer Politpunk! Und im neuen Song „Palo Alto“ brachte Kettcar eine Gruppe von Digitalisierungsverlierern zusammen: den Plattenladenbesitzer, die Mitarbeiterin aus der Videothek, den Bankangestellten. Und den Journalisten – Dauerbetroffenheit ist nicht nur schlecht. Schönes Konzert.