Hamburg. Die konzertante Aufführung von Mozarts „Don Giovanni“ war ein Ereignis. Nicht nur wegen Bassbariton Erwin Schrott in der Titelrolle.
„Viva la libertà!“ singt Mozarts Don Giovanni beim Fest im ersten Finale der gleichnamigen Oper. Es lebe die Freiheit! Eine Botschaft, die sich die Interpreten im Großen Saal der Elbphilharmonie zu Herzen nahmen und dreieinhalb kurzweilige Stunden lang zelebrierten. Mit ihrer Spontaneität und Frische zeigten sie, wie man das Stück um den rast- und reuelosen Verführer auch ohne straffes Regiekonzept und mit wenigen Requisiten lebendig auf die Bühne bringen kann.
Erwin Schrott, der uruguayische Star-Bassbariton in der Titelpartie, hatte die szenische Einrichtung der Oper übernommen und nur einmal, gleich zu Beginn, eine kreative Fehlzündung: Dass er den von Don Giovanni umgebrachten Komtur mysteriös von den Toten auferstehen lässt, nimmt dem weiteren Verlauf der Handlung ihre Motivation; schließlich ist es genau dieser Mord, der den Anfang vom Ende des Wüstlings einläutet.
Registerarie ist einer der vielen Höhepunkte
Aber das bleibt die einzige dramaturgische Panne der Aufführung mit dem Kammerorchester Basel unter Giovanni Antonini. Ansonsten streut Schrott seine Pointen zielsicher und geschickt. Wenn er die Champagnerstimmung im ersten Akt durch eine Tanzeinlage des spielfreudigen Deutschen Kammerchors untermalt – oder seinen eigenen amourösen Beutezug stört: Vor dem Duett mit Zerlina grätscht ihm nämlich Leporello ganz unromantisch dazwischen. Giovannis Diener konterkariert das Gesäusel seines Herrn im Hintergrund mit Quietschgeräuschen aus einem roten Ballon in Herzform. Ein hübscher Kommentar. Don Giovannis Liebesschwüre: eh nur heiße Luft!
Indem Erwin Schrott seine Einrichtung auf solche punktuellen Ideen und einen groben Bewegungsrahmen beschränkt, eröffnet er sich selbst und seinen Kollegen einen großen Freiraum. Den nutzen die erstklassigen Sänger, um ihre Partien und die Interaktion zwischen den Figuren aus dem Moment heraus zu gestalten. Dabei schöpfen die meisten aus dem Erfahrungsschatz einer langjährigen Auseinandersetzung mit der jeweiligen Rolle.
Beeindruckend etwa, wie souverän sich der Bass Adrian Sampetrean – erst auf den allerletzten Drücker eingesprungen – als Leporello ins Ensemble einfügt, als wäre er nicht erst 36 Stunden zuvor alarmiert worden, sondern schon seit Wochen mit der Truppe unterwegs, die ja selbst nur wenig Probenzeit hatte.
Crowe klingt stimmlich übersteuert
Sampetreans Registerarie bleibt als einer von vielen Höhepunkten in Erinnerung, ebenso wie der Auftritt von Giulia Semenzato als Zerlina. Mit ihrem geschmeidigen Timbre, das zwischen Unschuld, gurrender Süße und Zorneston changiert und mit ihrer natürlichen Bühnenpräsenz demonstriert die junge Italienerin, weshalb ihre Karrierekurve gerade steil nach oben zeigt. Julia Kleiter porträtiert die Donna Anna bei ihrem Rollendebüt naturgemäß noch nicht ganz so griffig, fesselt aber mit leuchtkräftigem und sinnlichem Sopran.
Lucy Crowe findet als Donna Elvira eine gute Balance aus tragischen und komischen Momenten und offenbart so die geniale Ambivalenz des Stücks, die in Schrotts Lesart eher auf die humoristische Seite kippt. Als Crowe vor Verzweiflung an die Rampe stürzt und mit den Händen ringt, wirkt ihr Schmerz über Giovannis Untreue real und ergreifend – bis sie zum Dirigenten Giovanni Antonini ans Pult schlurft, um sich an seiner Schulter auszuheulen.
Stimmlich klingt Crowe allerdings vor allem zu Beginn einen Tick übersteuert. Der Tenor Benjamin Bruns verzückt mit einem lyrischen Silberton, wie man ihn sich für Don Ottavio kaum schöner vorstellen kann, weicht aber in der Arie „Dalla sua pace“ von der intonatorischen Ideallinie ab, und David Steffens erreicht in der Doppelrolle als Masetto und Komtur nicht das Volumen der anderen Solisten.
Giovanni ist ein selbstbewusster Charmeur
Aber das sind Kritteleien an einem Luxuscast der Spitzenklasse. Chef im Ring ist Erwin Schrott selbst. Sein kerniges Timbre überstrahlt alles, er kostet die vokale Bandbreite zwischen Sprechgesang und weichem Legato aus und verkörpert die Figur des Don Giovanni glaubhaft bis in die Haarspitzen. Weil er nicht bloß hinreißend singt und blendend aussieht, sondern die Rolle mit ihrem ganzen Facettenreichtum auslebt. Man nimmt es ihm einfach ab, wenn er die Luft einsaugt und eine Frau wittert, wenn er testosteronsatt herumbalzt oder sich verschwörerisch ans Publikum wendet.
Sein Giovanni ist kein grober Macho, sondern ein selbstbewusster Charmeur. Er weiß, wie es geht und schlägt auch die weichen Saiten an. Sein berühmtes Ständchen ist als Duett mit der Mandolinistin Muriel Kieffer Quistad choreografiert. Gesang und gezupfte Töne scheinen sich dort verliebt zu umkosen, wie die beiden Interpreten selbst. Ein bezaubernder Moment, ganz intim und zärtlich.
Auch die Cembalistin Soyoung Sim spielt eine Sonderrolle. Ihre Verzierungen und Einsprengsel weichen oft von Mozarts Notentext ab und spiegeln so den Geist der Improvisation, der den besondern Charme der Produktion ausmacht.
Aufführung verzichtet auf eigentliche Schlussszene
Ansonsten treten das Kammerorchester Basel und Giovanni Antonini vor allem als sensible Begleiter in Erscheinung, mit schlankem Sound und weniger hitzeglühend und eigendramatisch als von ihnen gewohnt. Aber vielleicht braucht es auch nicht noch mehr Energie, sondern genau diesen Freiraum für die charismatischen Sänger.
Erstaunlich, dass die Aufführung – anders als die Prager Fassung, auf die sie sich beruft – nach Don Giovannis Höllenfahrt endet und auf die eigentliche Schlussszene verzichtet. Die letzte große Überraschung eines Abends, der die Vorteile einer konzertanten Oper lustvoll und leicht vor Augen und Ohren führt. Viva la libertà!