Hamburg. Das SWR Symphonieorchester spielte in Hamburg Schnittke und Tschaikowsky. Danach gab es noch eine Spezial-Zugabe.
Currentzisifizierung. Darum geht’s. Bei seinen eigenen Ensembles, die der Dirigent Teodor Currentzis im russischen Perm ins Leben gerufen hat und auf Trab hält, ist dieser Zustand selbstverständlich. Doch seit er nun auch das noch sehr junge, neue SWR Symphonieorchester als Chefdirigent übernahm, das 2016 aus zwei Vorgänger-Klangkörpern rabiat zwangsfusioniert wurde, passt diese Vokabel auch zum SWR.
Und für die faszinierende Verwandlung, die man dort gerade durchmacht, voller Begeisterung und Spaß am Vollgas ohne Sicherheitsgurt. Denn auch seine Neuen im Ländle formt er ganz nach seinem Willen. Sich selbst als Tutti kaum wiedererkennen wegen des Extrem-Dirigenten? Geht nicht. Es gab dieses Tutti vorher ja kaum. Aktuelles Beispiel für den Wahnwitz, der seitdem passiert, war die Überraschung am Ende des Elbphilharmonie-Gastspiels, mit der das SWR-Konzert noch mehr Sinn machte.
Tosender Schlussapplaus
Nach dem tosenden Schlussapplaus nämlich kam Currentzis mit einem Mikro auf die Bühne; er hielt eine Rede, eher eine Kurzpredigt, auch über die Wichtigkeit des Augenkontakts mit jedem einzelnen Menschen in solch einem Orchester. Und dass das schöne deutsche Wort „Dienst“ – von ihm mit Freigeist-Verachtung verbalentsorgt – für Musiker, wie er einer sein und um sich haben will, das schlimmste Wort überhaupt wäre. Und dann, wie bei Steve Jobs’ messianischen Apple-Bescherungen, versprach er, es käme noch was. In fünf Minuten.
Ach, na ja ..., dachten sich viele, als er wieder verschwand, was soll da noch Großes kommen, und gingen, anstatt zu warten. Die Saalbeleuchtung fuhr herunter, und vier SWR-Streicher nahmen im Restlichtkegel Platz. Schostakowitsch, 8. Streichquartett, eines seiner schönsten, heftigsten; das Schwarze Loch aus c-Moll in der Mitte seiner insgesamt 15 Quartette. Ganz groß.
Kammermusik am Ende
Kammermusik als Guerilla-Taktik einer Umarmung für die zwischenmenschliche Begegnungsform Konzert. Currentzis blieb während dieser 20 Minuten unsichtbar und war doch mitten im Raum, der Geist über den Noten. Und danach ging man so überrumpelt wie verklärt in die Nacht.
Was davor, im Hauptprogramm, geschah: Zwei weitere eigenwillige Russen mit Abonnements für Schicksalsschläge. Zunächst der Wahl-Hamburger Alfred Schnittke, 1998 gestorben, dessen Musik inzwischen weniger präsent ist als zu Lebzeiten. Sein Violakonzert ist eines seiner typischen Collagen-Werke, in denen vieles so klingt, als käme es einem aus vagen Erinnerungen an andere Komponisten bekannt vor.
Zwischendurch flackerten klassische Zitate auf
Solist Antoine Tamestit, der erst Anfang des Monats an dieser Stelle beim NDR mit Berio zu hören war, hatte damit seinen zweiten großen Auftritt im Großen Saal. Das Stück begann und endete mit unbestimmbarem Schweben und Verlöschen der Einzelstimmen, zwischendurch flackerten klassische Zitate auf, das Cembalo lieferte weitere kleine Verfremdungseffekte. Tamestits Bratschenpart irrlichterte zielstrebig durch das Labyrinth aus Andeutungen und Verwirbelungen. Und obwohl Currentzis’ Arbeit vor allem daraus bestand, das Ganze zu mehr als der Summe seiner Einzelteile zu formen, wurde bereits hier erkennbar, wie gern und wie disziplinerfreut das Orchester mit-spielte.
Weg mit dem Pathos
Und es gab als zweiten Russen, über weite Strecken allerdings eher durch den Blick ins Programmheft zu identifizieren als durch das Wie-Neu-Hören: Tschaikowsky. Nicht dessen Sechste, mit deren Einspielung Currentzis im letzten Jahr schon mal kräftig am Denkmalsockel gerüttelt hatte, sondern die Fünfte Sinfonie. Ebenfalls kulturelles Nationalheiligtum. Currentzis’ Rezept gegen die vernebelnde Ehrfurcht: weg mit dem Pathos, die Schluchzer raus. Radikales Entschwulsten, das Tutu einmotten. Harte Kanten wagen. Todernst sein, keine Mätzchen, dafür Geduld bei den groß inszenierten Spannungsbögen und Rückendeckung, wenn die Solo-Bläser glänzen sollen. So schwermütig, wie er gern gemacht wird, muss der erste Satz dann gar nicht sein. Mehr Mendelssohn, weniger Dostojewski. Und wenn Walzer, dann mit innerem Widerstand statt nur hübscher Restseligkeit.
Im Klangprofil war das SWR-Orchester einiges von der Rasiermesserschärfe der MusicAeterna-Kollegen entfernt. Es wäre auch das zweite Wunder, wenn dieser Sound in wenigen Monaten zu erreichen wäre. Doch auch der SWR-Tschaikowsky war ein echtes Biest: Wo andere schwammig auf Betroffenheit spielen, blieb diese Fünfte sehnig und bissig. Und der Drive, mit dem Currentzis das Blech vor sich hertrieb, um dem so gern angedichteten Schicksalsgewese cool und konzentriert entgegenzutreten, war enorm.
Besucherstimmen:
Angelika Krüger aus Hamburg: „Dieser Ausklang mit dem Quartett ist sehr schön, ich gehe ganz verzaubert aus diesem Konzert, ich bin ganz hingerissen vom Schostakowitsch.“
Maren Siebert-Meyer aus Hamburg: „Ganz toll, den ,jungen Wilden‘ Currentzis so zu erleben. Großartig, ihm dabei zuzusehen, wie er seine Musiker und Musikerinnen im Griff hat.“
Nächste Konzerte: 1./2. April: Verdis Requiem mit MusicAeterna / 4. Juni: Brahms’ „Deutsches Requiem“ mit dem Mahler Chamber Orchestra / 21. Juni: Schostakowitschs 7. Sinfonie mit dem SWR Symphonieorchester. Evtl. Restkarten. CDs: Mahler Sinfonie Nr. 6 (Sony Classical, CD oder Vinyl, ca. 16 bzw.
24 Euro). Tschaikowsky Sinfonie Nr. 6
(Sony Classical, ca. 11 bzw. 19 Euro).