Hamburg. Peter Tschaikowsky steht 2015 im Zentrum des Schleswig-Holstein Musik Festivals, das an diesem Wochenende in Lübeck eröffnet wird.

Drei Filmrisse hatte er hier, mindestens. Manch andere Nacht durchzechte er mit weniger hämmernden Folgen für Schädel und Gewissen. Dazu gab es Nächte mit wenig Schlaf, mit unruhigem Schlaf und einsam verdöste Nachmittagsstunden im Hotelzimmer, mal im „Hotel St. Petersburg“, mal im „Streit’s“. Das waren die beiden alsternah gelegenen Spitzenhäuser der Zeit, in denen Peter Iljitsch Tschaikowsky bei seinen sechs Aufenthalten in Hamburg zwischen 1861 und 1893 wechselweise logierte. Zur Vorbereitung seiner Konzerte, etwa im Conventgarten, arbeitete er auch viel, sah Partituren durch und korrigierte Fehler in den Noten. Er schrieb Briefe und Tagebuch, machte Besuche, aß in Schümann’s Austernkeller oder dem Restaurant Pfordte. Und er folgte gesellschaftlichen Verpflichtungen, deren meisten er sich liebend gern entzogen hätte.

Tschaikowsky, den das am Wochenende beginnende Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) in diesem Jahr als Komponisten in den Mittelpunkt seiner Programme rückt, hat eine beeindruckend gut dokumentierte Geschichte mit der Stadt (Peter Feddersen: „Tschaikowsky in Hamburg“, Schott, 2005). In Hamburg dirigierte er einige seiner wichtigsten Werke oder wohnte ihrer Aufführung bei, von der Streicherserenade und dem 1. Klavierkonzert b-Moll bis zu den Opern „Eugen Onegin“ und „Jolanthe“. Im Ortsteil Hamm wohnte sein deutscher Verleger Daniel Rahter, in Hamburg vertiefte Tschaikowsky die Bekanntschaft mit Hans von Bülow und Johannes Brahms, der ihm als Komponist doch zeitlebens fremd blieb, ja, zuwider war. Auch schloss er Freundschaft mit Theodor Avé-Lallemant, einem Herrn von damals 83 Jahren, der den größten Teil seines Lebens das Comité für die Philharmonischen Konzerte geleitet hatte und dem Tschaikowsky 1889 seine 5. Sinfonie widmete.

Auch in Hamburg war Tschaikowsky, der Komponist der großen Gefühle, auf der Suche nach dem eigentlich Unvereinbaren, nach Ruhm und nach Ruhe. Auch hier wollte er allein sein, und wenn er es dann war, ertrug er es nur schwer. Und auch hier beutelte ihn immer wieder gewaltig das Heimweh nach Mütterchen Russland.

Eigentlich genügen sechs von Tschaikowsky überlieferte Worte, um ihn für alle Zeiten zum Bannerträger der Hamburger Stadtwerbung zu machen und zum Seelenbalsamierer all jener, die Hamburg im steten Wettstreit mit der Hauptstadt als allzu häufig unterlegene Rivalin sehen. Er notierte sie 21-jährig im Juli 1861, als er die Stadt das erste Mal besuchte: „Hamburg ist bedeutend besser als Berlin“, schrieb er nach Hause. „Denn erstens habe ich vom Balkon aus eine köstliche Aussicht und zweitens gibt es da viel mehr Amüsement.“ Ob diese Vorzüge zu den Eigenschaften zählen, die die hanseatische Brust vor Stolz besonders schwellen lassen, bleibe dahingestellt. Doch dass die Hamburger Musikwelt, auch wenn sie zu seinen Lebzeiten über dessen Rang stritt, nach Tschaikowskys Tod im November 1893 einen ihrer prominentesten Freunde verlor, daran ließen die bewegten Nachrufe keinen Zweifel. „Einer der fruchtbarsten und liebenswertesten Componisten der Gegenwart ist dahingegangen“, schrieb Emil Krause im „Hamburger Fremdenblatt“. Josef Sittard, der Kritiker des „Hamburgischen Correspondenten“, der Tschaikowsky nach dessen erstem Hamburger Konzert 1888 ziemlich gerupft hatte, noch dazu mit einem beinahe völkisch übelriechenden Unterton („... wenn der Geist seines Stammes über ihn kommt, dann wird alle Logik preisgegeben und ein Hexensabbath von Tönen aufgeführt, dass uns Sehen und Hören, besonders aber letzteres vergeht“), und der sich später regelrecht mit ihm befreundete, prophezeite: „Aber die Kinder seines Geistes, sie leben fort, und werden, getragen von der Verehrung der Künstler und der Sympathie des Publicums, weiter und weiter der Welt zugeführt werden.“

Menschenscheu und freundlich war er, dieser früh gealterte Jungrusse, dessen emotionale Musiksprache man in der Brahmsstadt Hamburg mit ebenso großer Reserve wie Neugier aufnahm. 1888, bei der Jungfern-Tournee des bereits arrivierten Komponisten – 27 Jahre zuvor, als er hier erstmals Aussicht und Amüsement genoss, war Tschaikowsky noch Jurist auf dem Absprung und hatte sein Musikstudium noch nicht begonnen –, bekam er für das Dirigat seines Konzerts am 20. Januar ein Honorar von 500 Mark. Im Jahr darauf legte man schon einen Hunderter drauf. Gute Gagen indes waren schon damals vierstellig.

Die beiden Hamburg-Besuche 1892 und 1893 galten zwei Opern. Der Impresario Pollini, dem Tschaikowsky 1891 die Rechte an mehreren seiner Opern für Deutschland übertrug, sorgte 1892 für die deutsche Erstaufführung des „Eugen Onegin“. Am Pult ersparte der erste Kapellmeister des Stadt-Theaters Gustav Mahler, der die Partitur mit den Musikern und Sängern gründlich einstudiert hatte, dem Komponisten eine Peinlichkeit. Denn Tschaikowsky, als Dirigent stets im Zweifel über das eigene Können, wurde nur eine einzige Probe zugestanden. Er kam nicht zurecht, Mahler übernahm das Dirigat der Aufführung, wie im Jahr darauf auch das von „Jolanthe“.

Im öffentlichen Raum Hamburgs ist Tschaikowsky mehrfach präsent. Eine Tafel am ehemaligen Streit’s erinnert an ihn, auch eine Skulptur in der Laeiszhalle. Die Anregung, das neu gestaltete Areal vor der Gnadenkirche im Karolinenviertel Tschaikowskyplatz zu nennen, gab 2007 Kurzzeitkultursenator Stuth. Seit Ende 2014 pflegt zudem das dort eröffnete Tschaikowsky-Haus der russisch-orthodoxen Gemeinde die Erinnerung an den großen Russen.