Hamburg. Saxofon mit Seele: Am heutigen Sonnabend spielen Sebastian Gille und Wolf Kerschek gemeinsam beim Elbjazz in der Alten Maschinenhalle.

Es klingt eigentlich absolut logisch, dass beim Elbjazz-Festival am heutigen Sonnabend die beiden Hamburger Musiker Wolf Kerschek und Sebastian Gille gemeinsam im Konzert zu erleben sind. Als solle der eine dem anderen symbolisch das Staffelholz weiterreichen. Kerschek bekam den alle zwei Jahre verliehenen Hamburger Jazzpreis, eine Urkunde mitsamt einem Scheck über 10.000 Euro, im Mai 2013. Gille wird der Hamburger Jazzpreis 2015 ebenfalls am heutigen Sonnabend in die Hand gedrückt, nur anderthalb Stunden zuvor, in der Maschinenbauhalle von Blohm + Voss.

Die naheliegende Fügung des gemeinsamen Konzertierens verdankt sich indes einer noch nicht ganz auskurierten Handverletzung eines dritten Hamburger Jazzpreisträgers: Vladislav Sendecki. Der hätte nämlich eigentlich in der Komposition „In His Head“ von Wolf Kerschek sein großes Porträtsolo gehabt. Weil „Vladi“, wie alle dem Jazz verbundenen Menschen den aus Polen stammenden Pianisten der NDR Bigband nennen, noch nicht wieder spielen kann, kam Sebastian Gille zum Zug.

Geeigneter als gerade dieser Einspringer wiederum hätte kein anderer sein können. „Gille hat ein abgefahrenes harmonisches Konzept entwickelt“, erzählt Kerschek. „Das hat mich zum Schreiben des Stücks angeregt.“ Harmonisches Konzept: Das klingt nach grauer Theorie. Aber nur auf dem Papier. Die Musik, die Sebastian Gille auf seinem Tenorsaxofon unter anderem aus einer chromatischen Behandlung von Quintzusammenhängen entwickelt, ist von einer geradezu hemmungslosen emotionalen Intensität. So wie dieser junge Musiker auf seinem Instrument spielt, das so gar nichts Blinkendes, Showmäßiges hat, kommt einem in den Sinn, was Charles Mingus über den Sound von Charlie Parker schrieb: „Es hörte sich an, als seien in sein Horn tausend Seelen eingewickelt.“ Gilles abgerockt aussehendes Tenor ist ein Instrument der Alchemie; die stumpfe, kupfergoldfarbene Oberfläche kassiert, statt es zu reflektieren, nahezu alles Licht ein und gibt es in Klang verwandelt wieder zurück.

Sechs Jahre vor dem Fall der Mauer in Quedlinburg geboren und auf einem Dorf in der Nähe aufgewachsen, kam Sebastian Gille mit 21 Jahren zum Studieren nach Hamburg. Dem Jazz hatte er sich da längst mit allen Sinnen verschrieben.

Und er hat früh erfasst, dass besonders in dieser Kunst das Wie mehr zählt als das Was. Auch das Was fasziniert Gille sehr an der Musik, diesem Mysterium, dessen Räume immer größer zu werden scheinen, je weiter man sich in sie hineinbegibt. Sonst würde er sich in seinem Kopf keine „abgefahrenen harmonischen Konzepte“ ausdenken. Aber kein noch so ausgeklügeltes Zuordnen von Intervallen liefert einem auch den Ton, der die Musik macht. Gilles Ton ist eine kaleidoskopartig sich verändernde Summe innerer Farben und Seelenzustände, unverwechselbar eigen; was er im Hörer anrührt, muss nicht dasselbe sein wie das, was ihn hervorbringt.

Die Jury entschied sich für auch deshalb für Sebastian Gille, weil er nach dem vorübergehenden Exitus des Jazzclubs Birdland im Sommer 2013 der plötzlich heimatlos gewordenen Jazz Federation Hamburg zur Seite sprang und sich anderthalb Jahre lang als Booker in deren Dienst stellte – auf Kosten der eigenen Musik. „Damals hatte ich als Musiker nicht so viel zu tun“, erzählt er. „Ich habe mich dann in die Rolle des Veranstalters sehr reingehängt und auch da meinen Perfektionismus ausgelebt. Und unfassbar viel gelernt, zum Beispiel, mich durchzusetzen. Aber letzten Oktober musste ich die Reißleine ziehen.“

Die Rückkehr ins Spielen und Komponieren hat Gille beinahe eine neue Identität geschenkt. „Es fühlt sich seitdem alles erleuchtet an“, sagt er ohne allen Eso-Schmu. Vor allem zwei Ereignisse haben seine innere Helligkeit erhöht. Das eine: „Ein Konzert mit einem Quartett in Berlin, bei dem ich plötzlich nicht mehr wusste, was ich spielen sollte.“ Was sich anhört wie der Gau des Improvisators – keine einzige Idee mehr, blank im Kopf –, wandelte sich in den Segen des Nichtwissens. Seitdem spürt Gille eine neue Freiheit.

Das andere: Das vom Trommler Nathan Ott initiierte „Mixed Generations“-Projekt vor wenigen Wochen mit Dave Liebman, bei dem Gille sich ursprünglich als zweiter Saxofonist in dienender Rolle wähnte. Während des Konzerts im Golem aber habe er sich gefühlt, wie Liebman sich wohl gefühlt haben mochte, als er einst mit Miles Davis spielte. Und Liebman habe hinterher überall verbreitet, was für ein starker Spieler er, Gille, sei. Eine Initiation auf Augenhöhe.

Nach der Verleihung spielt Gille in einem Preisträgerkonzert mit drei Musikern, denen er sich besonders verbunden fühlt: „Ohne Pablo Held, Robert Landfermann und Jonas Burgwinkel wäre ich nicht da, wo ich heute bin“, sagt er. Das Trio hat ihn bei seinem Debütalbum „Anthem“ begleitet.

„In His Head“ mit Gille am Tenor ist nur eines von sieben Stücken von Wolf Kerschek für Orchester und Solisten der NDR-Bigband, die später am Nachmittag zu hören sein werden. Drei Tage lang hat Kerschek mit der aus 56 Musikern bestehenden „jungen norddeutschen philharmonie“ in seinem Haus geprobt. Und das Ensemble hat sich voller Begeisterung auf die grandiose Musik eingelassen, in der Kerschek Jazz-Improvisation mit einer anspruchsvollen und doch unmittelbar berührenden orchestralen Klangsprache legiert. Nur eine Frage raubte ihm zuletzt den Schlaf: Wie soll er in den ihm zur Verfügung stehenden 50 Minuten durch das Programm kommen, das auf CD etwas über eine Stunde dauert?

Live: Sa, 30.5., 17.00/18.30, beide Konzerte beim Elbjazz, Blohm + Voss, Alte Maschinenbauhalle