Hamburg. Vom Theatervirus infiziert: Im Thalia und im Schauspielhaus betreut Oberarzt Axel Othmer seit Jahren ehrenamtlich die Premieren.

Wenn Theater so richtig gut ist und wahr, überlebensgroß und überlebenswichtig, dann darf man schon mal zum Wortspiel mit der Operation am offenen Herzen greifen. Doch wenn im Theater tatsächlich ­etwas in medizinischer Hinsicht passiert, ist es gut, jemanden vor Ort zu ­haben, der einrenken könnte und beruhigen und Wunden versorgen, aus denen kein poetisch in Wallung ­gebrachtes Herzblut fließt.

„Ist ein Arzt im Saal?!“ „Ja, hier!“ „Tolle Vorstellung, oder, Herr Kol­­le­ge?“ Diesen Theaterarztwitz-Klassiker kennt Dr. Axel Othmer schon, in- und auswendig. Wer öfter in den Premieren am Schauspielhaus oder im Thalia sitzt, kennt ihn garantiert. Koteletten, ­Sixties-Anzüge, Beatles-Gedenkfrisur, freundlicher Blick. Oft wird er für einen Musiker oder Dramaturgen gehalten. Aber Othmer ist Oberarzt der Kinderchirurgie des Asklepios Klinikum Nord/Heidberg, 44 Jahre alt, Arzt seit 2000. Zwei Jahre später kamen die ersten ehrenamtlichen Abenddienste als Theaterarzt, in der Saison 2003/04 wurde er am Schauspielhaus zum Arzt befördert, dem man die Premieren anvertraut. Parkett links, Reihe 12, zwei Stammplätze, immer am Rand, falls mal etwas sein sollte.

Othmer muss rechtzeitig vor Vorstellungsbeginn anwesend sein und bleiben, bis der letzte Gast unfallfrei das Theater verlassen hat. Für akute Notfälle im Haus erhält er einen Pieper. Und wenn der Lederkoffer mit seinem Handwerkszeug nicht als Legitimation genügt – Dr. Othmer hat einen Hausausweis in der Geldbörse. „Manchmal komme ich mir vor, als sei ich Teil des Inventars“, amüsiert er sich.

Entsprechend familiär ist die ­Begrüßung der hauptamtlicheren Theaterkollegen. Kurz vor der Vierstundenpremiere von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ glüht das Ensem­ble noch ein letztes Mal neben den ­Parkettgarderoben vor. Locker machen, in sich hinein hören, so was. Einer fragt, natürlich nicht ernst gemeint, ob Othmer was zur Motivation dabei hat. Ein anderer möchte noch kurz etwas Medizinisches besprechen. Selten sind Schauspieler verletzlicher als in diesen Minuten.

Theater war eines seiner Abi-Fächer

Theaterblut geleckt hat Othmer bereits als Schüler im Süden Hamburgs. Theater war sogar eines der Abi-Fächer, danach blieb das Ensemble als freie Gruppe weiter zusammen, bis das Medizinstudium nach Prioritätensetzung verlangte. Aber: einmal infiziert, unheilbar verknallt. „Wenn ein Theaterabend gut läuft, habe ich am nächsten Tag einen anderen Blick auf die Gesellschaft. Das ist für mich ein guter Ausgleich.“ Den Gedanken, aus dem damaligen Schulfach einen Beruf zu machen, gab es nicht, deswegen gibt es heute auch keine Phantomschmerzen, weil er sich für einen anderen Job entschied. „das war einfach ein tolles Hobby und ist es immer noch. Nein, das tut nicht weh.“

Der Shakespeare-Marathon „Schlachten!“ in der Schauspielhaus-Ära von Frank Baumbauer – „Davon kann ich Ihnen noch in 30 Jahren erzählen. ,Kasimir und Karoline’ ... großartig.“ Der Theaterliebhaber im Theaterarzt vergisst solche Abende nicht. Und er ist, in Einzelfällen, auch mal leidensfähig und verkneift sich seine Krankmeldungen. „Ich bin dem Schauspielhaus so treu, dass ich hier immer meinen Dienst angetreten habe“, sagt Othmer beim Vorpremieren-Flammkuchen auf der Mitarbeiterseite der Kantine, „auch wenn ich vorher schon mal geahnt habe, dass es nicht ganz so großartig wird.“ Namen will er, klar, nicht nennen. „Das fällt unter ästhetische Schweigepflicht.“ Aber eine Vorliebe hat er, schon aus Mediziner-Kollegialität: Tschechow, der russische Melancholie-Dramatiker, der ebenfalls Arzt war. „Der hat einen angenehmen, nie verratenden Blick auf die Menschen, die er beschreibt. Ich mag das. Das sind da einfach normale, traurige Leute mit ihren Sehnsüchten. Tschechows Blick auf die Gesellschaft, der liegt mir.“

Mittlerweile ist Othmer nicht nur in Hamburg auf viele Premieren abonniert, er ist auch Theaterarzt beim Berliner Theatertreffen. Wie alles, was ihm bei seinen Abendsprechstunden im Parkett widerfährt, war auch das der reine Zufall. Und das kam so: Bei einem Gastspiel aus Basel hatte sich ein ­Ensemblemitglied verletzt, jemand, der Othmer kannte, holte ihn dazu. Mit einem der Pflaster, die Othmer immer dabei hat, leistete er so erfolgreich ­Erste Hilfe am Künstlerkinn, dass es nicht zum Nähen ins Krankenhaus musste, und das Pflaster hielt sogar noch drei weitere Vorstellungen durch. Seit 2008 hat Othmer deswegen ein ­festes Gast-Engagement in der Hauptstadt, die Zeit vergeht dort wie im Flug, und er sieht nicht nur das Feinste von deutschsprachigen Bühnen, sondern auch viele Bekannte und Freunde, die er hier, da oder dort als Patienten kennenlernte. „Das ist ja auch ein Theatertreffen und ein Teil meines sozialen Umfelds, da ergeben sich auch Freundschaften.“ Die Theaterleidenschaft teilt er mit seiner Frau, einer Grundschullehrerin, die Zwillingstöchter, knapp fünf, sind ebenfalls angesteckt. „Die spielen auch schon Theater und dass Mama und Papa abends ins Theater gehen, das kennen sie.“

Für seine speziellen Fälle hat Othmer auch Cognac im Arztköfferchen

Zu Othmers Aufgaben gehört neben Notfallversorgung am Rande des Rampenlichts auch eine Menge ­Psychologie, und gegen den kleinen Frust zwischendurch hilft auch eine ambulante Umarmung in der Garderobe oder im Backstage-Halbdunkel. Als er noch neu war hier, saß er bei einem „Sommernachtstraum“ neben dem Theaterband-Bassisten in der Kulisse, um ganz nah dran zu sein, falls die kreislaufschwächelnde Schauspielerin an diesem Abend ein zweites Mal zusammenklappte. „Aber auf der Bühne gibt’s keinen Schmerz“, berichtet er.

Daneben durchaus mal. Das kann von extremen Fällen wie dem Schauspieler, der sich aus Versehen mit einem nicht abgestumpften Messer fast den Hals aufschlitzte, bis zu Harmlosigkeiten wie der Neigung zur ausgelebten Hypochondrie gehen. „Wegen Lampenfieber bin ich erst einmal gerufen worden“, sagt Othmer. „Die Schauspieler finden in aller Regel einen Weg für sich, um damit umzugehen. Das ist ja auch ein guter Motor. Etwas Adrenalin muss schon sein.“ Für seine speziellen Fälle hat Othmer neben Schokolade als Nervennahrung auch eine kleine Glasphiole mit Cognac im Arztköfferchen, die zeigt er gern mal, wenn nachgefragt wird. „Ist aber mehr Show“ und kam noch nicht ernsthaft zum Einsatz.

Die meisten Schauspielhaus-Abende sind, aus strikt medizinischer Sicht jedenfalls, ohnehin ziemlich fad. „Das Premierenpublikum ist ganz gesund hier“, diagnostiziert Othmer. Falls nicht gerade ein „Stammgast“ im Saal mit dabei ist, wie damals bei der ­Premiere von Molières „Schule der Frauen“. Schwächeanfall im Parkett, so unfreiwillig dramatisch, dass Joachim Meyerhoff auf der Bühne minutenlang Mühe hatte, wieder ins Stück zurückzufinden. „Den Herrn kannte ich schon“, sagt Othmer. „Den habe ich schon dreimal verarztet. Und da er im Parkett saß, waren schon fünf Ärzte um ihn herum, bis ich bei ihm war.“