Hamburg/München. In dem millionenfach verkauften Standardwerk ist von Juden und ihren „Wirtsvölkern“ die Rede – Verlag kündigt Änderung an.

Das kleine Buch ist das, was man einen Megaseller nennt: Mehr als fünf Millionen Mal ist der „dtv-Atlas Weltgeschichte“ verkauft worden. Doch jetzt, nach 49 Jahren und 42 Auflagen, bekommt die Erfolgsgeschichte einen Makel – denn in dem zweibändigen Standardwerk, das Generationen von Schülern für den Unterricht nutzten, steht ein Passus, der das Leben von Juden im Nazijargon beschreibt. Es ist von Juden und ihren „Wirtsvölkern“ die Rede.

Das ist einer von vielen ursprünglich aus der Biologie stammenden Begriffen, die von Nationalsozialisten und anderen Rassisten für ihre antisemitische Ideologie missbraucht wurden. Während die Biologen dann von Wirtsvölkern sprechen, wenn Parasiten zum Beispiel Bienen befallen, haben Nazi-Ideologen den Terminus auf Juden angewandt, die „parasitär“ und „auf Kosten des (deutschen) Wirtsvolkes“ leben würden. Der NSDAP-Chefideologe Al­fred Rosenberg hat die Begrifflichkeit immer wieder verwendet, auch Adolf Hitler hat es in „Mein Kampf“ beschrieben.

Im dtv-Atlas „Weltgeschichte“, der beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München erscheint, wird in Zusammenhang mit der rechtlichen Gleichstellung von Juden im 19. und 20. Jahrhundert von deren „Wirtsvölkern“ gesprochen. Der genaue Wortlaut, der seit 1966 unverändert ist, heißt:

„In Südosteuropa herrscht mit Ausnahme Rumäniens und der Türkei Toleranz. 1917 werden die Juden in der Sowjetunion, dann in den neuen osteuropäischen Staaten gleichberechtigt. Der Aufhebung des äußeren Gettos folgt die des inneren, die in der Assimilation (Lösung von der Tradition und Übernahme der kulturellen Werte der Wirtsvölker) und der Reformbewegung (rel. Liberalismus) ihren Ausdruck findet.“

Dr. Miriam Rürup ist Direktorin des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden
Dr. Miriam Rürup ist Direktorin des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden © Universität Hamburg | Universität Hamburg

Miriam Rürup, Direktorin des renommierten „Instituts für die Geschichte der deutschen Juden“ in Hamburg, hält den Vorgang für befremdlich: „Der Begriff Wirtsvölker stammt aus einem Umfeld, in dem mit biologistischen Begriffen und Bildern Menschen und Sozialgefüge beschrieben wurden“, sagte sie dem Abendblatt. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert seien diese Diskurse zwar häufig auch schon antisemitisch durchdrungen, „gleichwohl hätte der Begriff damals durchaus auch von Juden benutzt werden können“, sagt die Historikerin. Inzwischen aber sollte man „diesen Begriff wahrlich nicht unreflektiert in – nicht nur – wissenschaftlicher Literatur verwenden, ist er doch mit Vorstellungen von ,Volkskörper‘ diskurs- und begriffshistorisch verbunden. Er legt schlicht die Vorstellung nahe, es gebe ,Fremdkörper‘ in einem ,Wirtsvolk‘ – und da ist gedanklich die Entfernung dieser ,Fremdkörper‘ nicht weit.“

Für Daniel Killy von der Jüdischen Gemeinde Hamburg ist es ein „Skandal, dass dieser Begriff aus der Nazi-Ideologie seit Jahrzehnten von keinem Lektor bemerkt wurde“. Ein „Wirtsvolk“ bedeute, dass es auf der anderen Seite „Parasiten“ gebe – eine solche Begrifflichkeit aus der Biologie auf Juden anzuwenden, sei ungeheuerlich, sagte er.

Der Deutsche Taschenbuch Verlag bedauerte gegenüber dem Hamburger Abendblatt die Wortwahl. „Es ist ein in der Tat peinlicher und rassistischer Passus, der sich seit der ersten Auflage im dtv-Atlas Geschichte findet“, teilte Anna Coseriu vom Lektorat schriftlich mit. Der Deutsche Taschenbuchverlag werde die Passage für die im November geplante Neuauflage korrigieren.

Der Ursprung des pseudowissenschaftlichen „biologischen Rassismus“ liegt im 19. Jahrhundert. Die revolutionären Forschungen von Charles Darwin zur Evolution („Über die Entstehung der Arten“) regten vor allem in Westeuropa Antisemiten dazu an, ihren Judenhass „wissenschaftlich“ zu untermauern, indem sie „arischen“ Völkern „edle Eigenschaften“ andichteten und „semitischen“ Völkern zerstörerische. Besonderen Einfluss erreichten berühmte Forscher wie der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke („Die Juden sind unser Unglück“) und der Brite Houston Stewart Chamberlain, der die „Reinheit der arischen Rasse“ forderte und eine „Durchmischung“ durch Juden ablehnte.

All dies legte die Grundlagen für die Nazi-Ideologie, die in den menschenverachtenden Aussagen Adolf Hitlers in „Mein Kampf“ gipfelten: „...die Wirkung seines (des Juden, Anm. d. Red.) Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: Wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab.”

dtv spricht von Gedankenlosigkeit bei Autoren und Lektoren

Wie solche Denkweisen in einem von Generationen von Schülern (und ihren Lehrern) gelesenen Geschichts-Lehrbuch auch noch im Jahr 2015 niedergeschrieben sein können, erscheint unerklärlich. Erstaunlich genug, dass bei der Erstauflage der dtv-Weltgeschichte im Jahr 1966 – also 21 Jahre nach Ende der Nazi-Diktatur – das Wort „Wirtsvölker“ gedruckt wurde. Warum aber nach 42 Auflagen (mit vielen Millionen Lesern) und immer neuen Erweiterungen und Überarbeitungen niemand eine Änderung veranlasst hat, kann auch der Verlag nicht wirklich erklären.

Die Autoren – Werner Hilgemann und Hermann Kinder – sind mittlerweile verstorben. „Wer von den beiden dafür verantwortlich ist, lässt sich nach knapp 50 Jahren leider nicht mehr feststellen. Ich kann aber versichern, dass keiner der beiden auch nur in die Nähe nationalsozialistischen Gedankenguts gerückt werden kann“, so Verlags-Lektorin Anna Coseriu zum Abendblatt. Sie vermute, dass „der Wortgebrauch auf Gedankenlosigkeit“ zurückzuführen sei – was „schlimm genug“ sei und „leider auch für das Lektorat gilt, das damals diesen Passus hätte beanstanden müssen.“

Und warum ist das 50 Jahre lang niemanden aufgefallen? Coseriu: „Da bei Neuauflagen nicht das ganze Buch vom Lektorat durchgesehen wird, sondern nur Aktualisierungen vorgenommen und bekanntgewordene Fehler korrigiert werden, ist uns diese Stelle bis heute entgangen.“