Hamburg. Antisemitismus im Standardwerk: Der Verlag dtv räumt den Nazi-Begriff als “peinlich und rassistisch“ ein – und will ihn streichen.

Der „DTV-Atlas Weltgeschichte“ muss wegen einer rassistischen und antisemitischen Passage überarbeitet werden. Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat eingeräumt, dass ein seit 1966 in 42 Auflagen gedruckter Absatz „peinlich und rassistisch“ sei. In der für November 2015 geplanten Neuauflage werde der Passus korrigiert. Darin ist bislang in Zusammenhang mit der rechtlichen Gleichstellung von Juden im 19. und 20. Jahrhundert von deren „Wirtsvölkern“ die Rede. Der genaue Wortlaut, der in mehr als fünf Millionen Exemplaren verbreitet wurde, heißt:

„In Südosteuropa herrscht mit Ausnahme Rumäniens und der Türkei Toleranz. 1917 werden die Juden in der Sowjetunion, dann in den neuen osteuropäischen Staaten gleichberechtigt. Der Aufhebung des äußeren Gettos folgt die des inneren, die in der Assimilation (Lösung von der Tradition und Übernahme der kulturellen Werte der Wirtsvölker) und der Reformbewegung (rel. Liberalismus) ihren Ausdruck findet.“ (Band 2, Seite 241).

„Wirtsvölker“ ist einer von vielen ursprünglich aus der Biologie stammenden Begriffe, die von Nationalsozialisten und anderen Rassisten für ihre antisemitische Ideologie missbraucht wurden. Während die Biologen dann von Wirtsvölkern sprechen, wenn Parasiten zum Beispiel Bienen befallen, haben Nazi-Ideologen den Terminus auf Juden angewandt, die „parasitär“ und „auf Kosten des (deutschen) Wirtsvolkes“ leben würden. Der NSDAP-Chefideologe Alfred Rosenberg hat die Begrifflichkeit immer wieder verwendet, auch Adolf Hitler hat es in „Mein Kampf“ beschrieben.

Auszug aus dem dtv-Weltatlas
Auszug aus dem dtv-Weltatlas © Thorsten Ahlf | Thorsten Ahlf

Für Daniel Killy von der Jüdischen Gemeinde Hamburg ist es ein „Skandal, dass dieser Begriff aus der Nazi-Ideologie seit Jahrzehnten von keinem Lektor bemerkt wurde“. Ein „Wirtsvolk“ bedeute, dass es auf der anderen Seite „Parasiten“ gebe – eine solche Begrifflichkeit aus der Biologie auf Juden anzuwenden sei ungeheuerlich, sagte er.

Miriam Rürup, Direktorin des renommierten „Instituts für die Geschichte der deutschen Juden“ in Hamburg, hält den Vorgang für befremdlich: „… man sollte diesen Begriff wahrlich nicht unreflektiert in – nicht nur – wissenschaftlicher Literatur verwenden, ist er doch mit Vorstellungen von `Volkskörper' diskurs- und begriffshistorisch verbunden. Er legt schlicht die Vorstellung nahe, es gäbe ‘Fremdkörper’ in einem ‘Wirtsvolk’ – und da ist gedanklich die Entfernung dieser ‘Fremdkörper’ nicht weit.“

Die Autoren des Buchs – Werner Hilgemann und Hermann Kinder – sind mittlerweile verstorben. „Wer von den beiden dafür verantwortlich ist, lässt sich nach knapp 50 Jahren leider nicht mehr feststellen. Ich kann aber versichern, dass keiner der beiden auch nur in die Nähe nationalsozialistischen Gedankenguts gerückt werden kann“, sagte Verlags-Lektorin Anna Coseriu dem Abendblatt. Sie vermute, dass „der Wortgebrauch auf Gedankenlosigkeit“ zurückzuführen sei – was „schlimm genug“ sei und „leider auch für das Lektorat gilt, das damals diesen Passus hätte beanstanden müssen.“