Vier unerklärliche Todesfälle stehen am Anfang von Ulrich Wickerts neuem Kriminalroman „Das marokkanische Mädchen“. Was dann folgt, ist eine spannende, mit viel politischer Kenntnis geschriebene Geschichte
Hamburg. Die Sonne wärmte bereits, der Himmel zeigte sein zartes Blau, als Philippe, der Frisör, sich in hautenger grauer Hose und gelbem Trikot aufmachte, um sein neues Rennrad einzuweihen. Ein hügeliges Waldstück vor Paris sollte das Ziel seiner Jungfernfahrt sein. Dass er dort mit zwei roten Blutflecken auf gelber Brust vom Rad stürzen und bereits tot sein sollte, bevor er den Boden berührte, konnte Philippe nicht ahnen.
Ahnen konnte er auch nicht, dass außer ihm noch drei weitere Menschen zur selben Zeit im selben Waldstück ihr Leben lassen mussten. Mohammed, seine Frau Aicha und ein alter Freund Mohammeds, mit mehreren Kopfschüssen hingerichtet in ihrem klapprigen Citroën. Vier Tote, ein Auftragskiller. Und dazu das sechsjährige Mädchen Kalila, das unentdeckt überlebt hat, weil es sich in ein Versteck hinter der Rückenlehne des Pkw zurückgezogen hatte.
Vier Morde stehen am Anfang von Ulrich Wickerts neuem Kriminalroman „Das marokkanische Mädchen“. Es ist der bereits fünfte Fall für den Pariser Untersuchungsrichter Jacques Ricou. Und es ist ein spannender, mit viel politischer Kenntnis geschriebener Roman. Denn Wickert kennt aus seiner jahrelangen Zeit als ARD-Korrespondent in Paris die französischen Verhältnisse genau, was seiner Geschichte ungemein zugute kommt. So spart er auch nicht mit bösen Spitzen gegen das System Sarkozy, gegen Korruption, gegen den Dünkel der politischen und wirtschaftlichen Eliten. Und gegen diese eigenwillige Häufung amouröser Affären von französischen Spitzenpolitikern mit hochrangigen Journalistinnen. In Paris, der Stadt der Liebe, eine offenbar gängige Form der Informationsbeschaffung.
Ricou und sein Freund, Kommissar Jean Mahon, jedenfalls tappen – wie sollte es in dem Genre anders sein – anfangs im Dunkel. Mohammed, so stellt sich zumindest schnell heraus, hatte einige durchaus zwielichtige, vor allem aber mächtige Bekannte. Ein zwingendes Motiv für einen Mord lässt sich allerdings nicht finden. Dann ist Kalila verschwunden. Das traumatisierte Mädchen war in einem Kinderkrankenhaus untergebracht – jetzt fehlt von ihr jede Spur. Hat es der Auftragsmörder auch auf sie abgesehen? Schließlich ist durch eine Indiskretion bekannt geworden, dass die Kleine das Attentat überlebt hat.
Ricou macht sich derweil auf nach Marrakesch, wohin Spuren aus dem Umfeld Mohammeds weisen. Was der Richter dort erlebt, hätte er nicht für möglich gehalten. Albtraum nichts dagegen. Doch als er nach Paris zurückkehrt, wechselt der Schrecken nur sein Antlitz.
Mit „Das marokkanische Mädchen“ hat Ulrich Wickert erneut einen schlüssigen politischen Kriminalroman geschrieben. Wickert, der Journalist, ist kein Literat, der sich in seine eigenen Formulierungen verliebt, Wickert ist ein Geschichtenerzähler, einer, der es versteht, seine Leser mitzunehmen in eine Welt, die voll ist von unheilvollen Verstrickungen, in die die Protagonisten geraten. Es geht nicht nur um Mord, es geht um den unbedingten Willen zur Macht und um eine schier unersättliche Gier. Skrupel existieren nicht in dieser Welt, in die Wickert mit seinem Untersuchungsrichter Jacques Ricou eine faszinierende Figur hineingedichtet hat.
Ricou wird uns weiter erhalten bleiben. Denn eine Geschichte, die derart endet wie diese, schreit nach Fortsetzung. Und Ulrich Wickert wäre nicht Ulrich Wickert, würde er daran nicht schon arbeiten.
Ulrich Wickert liest am 8. November 2014 beim Hamburger Krimifestival auf Kampnagel.