Hamburg. #Metoo, Corona, Ukraine – und das Upperclass-Hamburg: Michael Kleebergs Karlmann-Saga geht mit dem Roman „Dämmerung“ zu Ende.

Dieser Herr knapp nach den besten Jahren ist ein High Performer. So würde sich Karlmann Renn, für Freunde Charly, vielleicht selbst bezeichnen. Er ist eigentlich, denkt er, ein Mann der Gegenwart, er kennt das mit den Anglizismen. Aber Gegenwart, was hat das schon zu besagen? Wenn man irgendwann merkt, dass man mit dem Zeitgeist doch nicht mehr übereinstimmt? „Wie auch immer, die Kongruenz von Charly und seiner Zeit ist vorbei“, resümiert der Erzähler ganz am Ende des Romans „Dämmerung“.

Ja, die Charly-Dämmerung, sie ist ist in diesem opulenten, themenreichen, panoramatischen Roman mit starker Hamburg-Prägung unausweichlich. Nach Jahren in der Kautschukbranche, als Geschäftsführer bei Jessen & Sieveking im Chile-Haus, ist Charly mit Anfang 60 und satter Abfindung nicht in den Ruhestand gegangen. Nein, er, der Rastlose, hat sich vom Staatsrat der Kulturbehörde umschmeicheln lassen. Deswegen ist er im Herbst seines Berufslebens plötzlich Chef des Lessinghauses. Einer von der Stadt geförderten Einrichtung in der Kleinen Johannisstraße, die behäbig geworden ist, vielleicht schon immer war; jedenfalls ist das öffentliche Interesse an ihr gering.

Neuer Roman „Dämmerung“: Szene auf dem Ohlsdorfer Friedhof

Das soll und das will Charly Renn ändern. Der Kaufmann unter den Kulturmenschen, aus der Reibung muss doch Gutes entstehen! Aufräumen will der Anpacker Renn das kleine Veranstaltungshaus, in dem mit seiner Installation auch Familiengeschichte fortgeschrieben wird. Sein Vater war dort einst ebenfalls am Ruder.

Das ist einer der Kreise, den dieser Roman und diese Romanreihe beschreiben: Renn sen. ist eine Figur, die Kleeberg-Leserinnen und -Leser in „Karlmann“ (erschienen 2007) und „Vaterjahre“ (2014) kennengelernt haben. In „Dämmerung“ wird zunächst die Feier von Charlys 60. Geburtstag geschildert, an dem der Vater geistig kaum noch teilhaben kann. Dann stirbt er.

Beides, der Geburtstag im Gasthaus und die Beerdigung auf dem Ohlsdorfer Friedhof, sind Ereignisse, die der Stilist Kleeberg mit große Fabulierlust in Szene setzt. Hier das private Zusammenkommen, dort das öffentliche, die Kulturbehörde hat ein ehrendes Begräbnis samt Bürgermeister a. D. und Kultursenator für den Sohn der Stadt angeschoben – Kleeberg nutzt beide Anlässe, um das Leben seines Charly, um die Stadtgesellschaft, das Land und die Epoche zu besichtigen.

Autor Michael Kleeberg: Darstellung eines Hamburgs, in dem Status angeboren ist

Wer ein bestimmtes Hamburg in einem Roman dargestellt sehen will, ist hier richtig. Es ist das sehr bürgerliche, das Upperclass-Hamburg. Es ist das Hamburg, in dem Status angeboren ist, so ja auch bei Charly, der von seinem Vater, dem Kaufmann, ein kleines Vermögen erbt. Charly staunt über die späten Börsenaktivitäten seines Vaters, die aus einer Zeit stammen, in der er den Alten schon längst komplett dement wähnte.

Der Gutverdiener Renn ist anspruchsvoll, was seinen Bekanntenkreis angeht. Das merkt man, wenn er wie immer offenherzig Auskunft über die Gäste seines runden Geburtstags gibt. „Keine Gescheiterten, keine Politiker“ sind geladen, nein, es ist eine Zusammenkunft von „Anwälten, Ärzten, Zahnärzten“, von „Immobilienverwaltern, Technikern vom Agrar- bis zum Maschinenbauingenieur“, von „Pharmazeuten, Verwaltungsjuristen, Bankern, Tradern“.

Michael Kleeberg verbrachte seine Jugend in Hamburg.
Michael Kleeberg verbrachte seine Jugend in Hamburg. © Vivian J. Rheinheimer

Hamburg ist für Charly die Stadt der makellosen Zähne. Bei der Ukraine-Gala im Lessinghaus, die er zugunsten des überfallenen Landes für Hamburgs bessere und zahlungskräftige Kreise ausrichtet, werden Gäste phänomenologisch klassifiziert, Soziologie hat auch etwas mit dem Look zu tun. Alles sehr gleich, sehr homogen hier, fällt Charly auf, dessen Seitenwechsel von der Wirtschaft in die Kultur die Wahrnehmung geschärft hat: „Das Einzige, woran der Blick hängen blieb, waren die durchweg sehr weißen, sehr ebenmäßigen Gebisse, sobald die Menschen den Mund öffneten“.

Einer sieht aus wie der andere in der Finanzelite der Stadt. Und Charly stellt wieder einmal fest: „Das Hamburger Vermögen war diskret bis zur Unsichtbarkeit.“ Ein paar Hunderttausend Euro werden an diesem Abend eingesammelt. Es ist der Abend, an dem Charly auf seine alten Tage prominent in der öffentlichen Arena steht. Und er wird nach genau diesem Abend in ihr untergehen.

Roman „Dämmerung“: John Updikes „Rabbit“-Reihe als Vorbild

Kleebergs Spiel mit der Erzählsituation ist angesichts der Themen, die er in „Dämmerung“ unterhaltsam abklappert, auf die Spitze getrieben. Mal spricht Charly, dann der Erzähler, und hinter all dem verbirgt sich auch der Autor. Ukraine, Corona, #Metoo – „Dämmerung“ ist ein Roman der Gegenwart. Einer Gegenwart, in der viel gestritten wird, man könnte also immer hinter den im Roman ausgestellten Haltungen auch einen Kommentar zu dieser Gegenwart herauslesen. Muss man aber nicht. Erzähler und Autor sind zu trennen, oberste Germanistenregel.

Was man sagen darf: Seine Grundsympathie verliert der Erzähler nie, wenn er Charly mit lediglich sanfter Ironie begegnet. Aber er lässt ihn am Ende doch ins Verderben laufen, und man kann nun als Leserin oder Leser etliche Gründe finden, um das entweder verdient oder unverdient zu finden. Man hat Charlys Schwächen kennengelernt, seine Stärken; er ist ein Mann, der von und in seinem sozialen Umfeld lebt und für dieses. Woanders vorstellen als in der Zone der weltanschaulich und gedanklich Festgelegten, die an ihre eigene biografische Behaglichkeit denken (sind wir anders?) kann man sich ihn nicht. Er ist der deutsche Harry Angstrom, wie überhaupt John Updikes „Rabbit“-Reihe Vorbild der Charly-Renn-Saga ist.

Michael Kleeberg: Roman über den „alten, weißen Mann“

Charly ist der Idealrepräsentant des ichbezogenen Mannes, das menschliche Subjekt im Zeitalter des Narzissmus, einer wie wir alle oder zumindest fast. Er beherrscht die Regulierung des Herzens perfekt, Verletzungen sind nie zu tief, er lässt es nicht so weit kommen. Nur als der Alte stirbt, hat er einen Nervenzusammenbruch.

Nach der Trennung von Ehefrau Heike hat er mehrere Lebensabschnittsgefährtinnen, sie werden kursorisch abgehandelt. Ernst wird es erst, als Kleeberg das Scheitern der Familie schildert. Er schont seinen Helden auch da kaum, ein toller Vater ist Charly nicht.

Michael Kleeberg: „Dämmerung“. Penguin. 480 S., 26 Euro
Michael Kleeberg: „Dämmerung“. Penguin. 480 S., 26 Euro

Ist Hamburg, die Stadt, in der der gebürtige Baden-Württemberger, Ex-Pariser und Jetzt-Berliner Kleeberg seine Jugend verbrachte, in diesem Roman gut getroffen? Ja, durchaus in dem Ausschnitt, den „Dämmerung“ vor dem Leser ausbreitet. Aber die Karlmann-Trilogie reichte immer über Hamburg hinaus, war zwischen den Jahren 1985 und 2022, wo sie nun endet, eine pralle, vor Leben pulsierende Geschichte der Bundesrepublik. „Dämmerung“ nun handelt vom Sterben und Abtreten, vom Platzmachen.

Dass dies auf die harte Tour geschieht und mit Charly sich der Repräsentant einer zu Ende gehenden Zeitepoche von dannen macht, den manche einen „alten, weißen Mann“ nennen, mögen manche gutfinden und andere nicht. Der Verlust einer literarischen Figur, deren Geschicke wir in drei Romanen mit oft glänzenden Dialogen und manch unvergesslichen Szenen verfolgt haben, ist ganz sicher zu beklagen.

Michael Kleeberg stellt seinen Roman „Dämmerung“ auf der Langen Nacht der Literatur im Literaturhaus vor, 2.9., 19.30 Uhr