Hamburg. Abendblatt-Geburtstagsserie mit den 75 wichtigsten Geschichten dieser Jahre. Heute: Eine Reporterin über ihren Musical-Besuch.
Viele Jahre lang hing das schwarze Poster mit den markant-gelben, schrägstehenden Augen, und den Pupillen, die verschwommen Tänzer abbilden, an der Innenseite meiner Zimmertür.
„CATS“ stand da in weißen Versalien, wie flüchtig im Vorübergehen drauf geschrieben, so die Anmutung. Und etwas weiter unten, in akkurater Druckschrift „Operettenhaus Hamburg“. Das Plakat war, bis es dort mit Tesa angeklebt wurde, weit aus Hamburg angereist, denn mein Zimmer befand sich damals, Mitte der 90er-Jahre, in einer Kleinstadt nahe der kurpfälzischen Metropole Heidelberg. Weinreben statt weite Welt.
Musical Hamburg: „Cats“, das war der Anfang von etwas Großem
Eine professionelle Musical-Produktion kannte Deutschland bis kurz zuvor nicht, gestandene Theater-Abonnenten wirkten unschlüssig. War das nun Theater? Oder Tanztheater mit Gesang? Hochkultur wohl nicht, so kulturkonservative Stimmen, die damals durchdringend waren.
Niemand sollte ahnen, dass der Theaterproduzent Friedrich Kurz, der das – aus heutiger Sicht – ikonische Stück gegen große Widerstände nach dessen Uraufführung am 11. Mai 1981 im New London Theatre und dann am Broadway und in Wien zur Deutschland-Premiere am 18. April 1986 nach Hamburg an den Spielbudenplatz holte, damit eine Epoche begründete.
Achtmal pro Woche wurde gespielt, die 1120 Plätze waren besetzt, gar an wiederkehrende Besucher war man gewöhnt: Der Musical-Boom hatte begonnen.
Operettenhaus Hamburg: 1986 feierte „Cats“ auf St. Pauli Deutschland-Premiere
Doch worum geht es bei „Cats“? Auf einer Londoner Müllkippe kommt eine Katzentruppe, ein räudiges Rudel, zum „Jellicle Ball“ zusammen, an dessen Ende eine Katze erwählt wird, um wiedergeboren zu werden. Der britische Komponist Andrew Lloyd Webber war – und mit ihm Generationen von britischen Kindern – fasziniert von den berühmten Katzengedichten T.S. Eliots: „Old Possums Katzenbuch“ von 1939.
Mit Erlaubnis der Witwe des Autoren vertont er die Stücke. Aus dem eingangs konzipierten Liederabend entsteht ein dichte Erzählung, doch die war für die meisten Besucher und den jahrelangen „Cats“-Hype gar nicht ausschlaggebend. Zwar stolzierten darin Katzentypen wie Mr. Mistoffelees, ein Kater mit magischen Kräften, schwarz-weiß und sich seiner Macht noch nicht vollständig bewusst, herum und die diebischen Katzen-Zwillinge Mungojerrie and Rumpleteazer, die durch jugendliche Bagatellen Ärger machen, sprangen über verroste Autowracks.
„Cats“: Die abgehalfterte Katzendame Grizabella singt das bekannteste Lied
Und natürlich ging es um Grizabella, die abgehalfterte, einstige Lady, die voller Trauer und Dramatik über ihren bedauernswerten Zustand singt. „Memory“, so der Titel des bekanntesten Songs aus „Cats“. Doch uns Kids faszinierte mehr die Opulenz der Optik, die Schnelligkeit der Bewegungen, der Spirit.
Die Erwachsenen, sie diskutierten indes weiter, ob das neue Genre nun dem Theater zuzuordnen sei? Und von der Bewegung her, eher Modern Dance oder Jazz?
Folglich musste ich lange bohren und schulisches Engagement betreiben, bis meine Mutter zum Telefonhörer griff und drei Karten für „Cats“ in Hamburg bestellte. Ziemlich sicher bezahlte sie nach einer postalischen Rechnung via händisch ausgefülltem Überweisungsträger.
Musical in Hamburg – Aufbruch in eine unbekannte, aufregende Welt
Nun lagen nur noch sechs Stunden Autobahnfahrt mit meiner kleinen Schwester, Haribo Colorado und TKKG-Hörspielen zwischen mir und den tanzende Katzen, von denen in meiner Ballettschule laufend die Rede gewesen war. Musical, die Mischung von Tanz, Gesang und Schauspiel, vereint in Leichtigkeit und mit dem Ziel zu unterhalten, zog magisch an. „Cats“ stand für all das Neue, Unerwartbare, der Süden der Republik hinkte hinterher.
Obwohl, das Nationaltheater Mannheim zeigte 1995 „West Side Story“, zeitgleich sang der damals noch sehr unbefleckte Xavier Naidoo die Hauptrolle des Dany im Rosengarten Mannheim im Musical „Human Pacific“. Jedoch, Musical in Hamburg, das klang nach Aufbruch, nach etwas Unbekanntem, es war schlicht aufregend. Denn in unserer Welt gab es noch keine Wochenend-Trips nach Paris oder Kopenhagen, es war eben alles mehr Tic Tac als Tik Tok.
„Cats“ in Hamburg: Opulentes Bühnenbild und Kostüme begeistern die Besucher
In meiner Erinnerung fehlt dann ein Stück, ich sehe vor meinem inneren Auge uns drei Süddeutschen noch im Foyer des Operettenhauses, bevor da nur noch Bühne ist: Das Gefühl, mittendrin zu sein in einem riesigen Konglomerat aus lauter Musik, überwältigenden Kostümen, einem gigantischen Bühnenbild! Alles bewegte sich, wild applaudierende Zuschauer, herumspringende Katzen, meisterhafte Maske.
Die Energie war ansteckend, jede Szene bot neue, unerwartete Höhepunkte.
Musical Hamburg: „Cats“ verkauft sechs Millionen Tickets
„Memory“, den Song von Grizabella, und das im Foyer gekaufte Plakat, beides begleitete uns auf der Rückfahrt heim nach Baden-Württemberg und noch viele Jahre. Genau wie die Massen von Menschen – mehr als sechs Millionen kauften ein Ticket – aus ganz Deutschland, die nach Hamburg pilgerten und die die Katzen auf der Müllkippe in den 15 Jahren von 1986 an gesehen hatten. Und damit den Musicalboom auslösten.