Hamburg. Der Geiger Ray Chen über die Verbindung zum Publikum, den Umgang mit Stradivaris und das Spielen in Extremsituationen.
Wie es klingt, wenn ein Journalisten-Kugelschreiber versehentlich auf eine Stradivari fällt? Mit dieser interessanten Erfahrung im Backstage-Bereich der Elbphilharmonie begann die erste direkte Begegnung mit dem Geiger Ray Chen. Dennoch wurde später ein Gesprächstermin daraus, um über seinen Werdegang und seinen Blick auf seine Arbeit als Musiker zu reden. Das Leitmotiv: Publikum.
Hamburger Abendblatt: Geige zu spielen kann man lernen, aber niemand scheint einem Musiker oder einer Musikerin beizubringen, wie man mit einem Live-Publikum umgeht. Manche scheinen weder daran zu denken noch es für wichtig zu halten, nicht nur über die Musik mit diesen Menschen zu kommunizieren. Ein Problem, oder?
Ray Chen: Interessantes Thema, diese Beziehung. Genau dafür gibt es uns. Wir sind der Strohhalm, die Komponisten sind der Saft. Jeder Künstler sollte wissen, wer sein Publikum ist. Es gibt zwei Arten: die eher beobachtenden Menschen – und die, die tief eintauchen und ein Teil der Kunst werden wollen. Jede Gruppe braucht entsprechend passende Künstlerinnen oder Künstler. Heutzutage ist den Menschen meiner Meinung nach ein immersives Erlebnis in Konzerten wichtiger.
Suchen Sie sich eine einzelne Person heraus, die Sie dann konkret „anspielen“?
Nein, das wäre doch etwas zu intensiv. Ich verstehe den gesamten Konzertsaal, bis in die letzte Reihe, eher als Verlängerung meines Instruments. So wird jedes Konzert anders, weil jeder Saal anders reagiert. Tolle Säle helfen einem, dort jeden Winkel zu erreichen.
Geiger Ray Chen: „Ich liebe das Teilen“
Im Alltag kann es schon wirklich schwer sein, sich auf eine einzige Person zu konzentrieren. Sie wollen das mit Tausenden.
Niemand hat gesagt, dass das Leben eines Künstlers einfach ist. Aber: Nach Tausenden Stunden, die man darauf hin geübt hat, endlich so weit zu sein, etwas teilen zu können – dann soll man es doch lieber lassen?! Das fände ich etwas lächerlich.
Trotzdem: Manche sind bei dieser Kommunikation entspannter, andere liefern ausschließlich die Musik ab.
Zum Thema Veränderung: Sehr schwierig. Einige tun seit Jahrzehnten, was sie tun – und dann verändern sich die Dinge und es wird von ihnen verlangt, sich ebenfalls von Grund auf zu ändern. Das widerspricht manchen komplett. Ich, Ray Chen, glaube, dass man mit dem Publikum in Verbindung bleiben sollte. Als Künstler sollte man sich fragen: Mache ich immer das Gleiche? Ist die Antwort ja, sollte sich Angst einstellen. Und kommt diese Angst nicht, bedeutet es, dass man träge geworden ist.
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Auf Social-Media-Plattformen sind Sie sehr aktiv und geben dort viel von sich preis. Aber schlagen Sie das mal Künstlern aus einer anderen Generation vor, Pianisten wie Grigory Sokolov oder Krystian Zimerman… Wie wichtig ist dieser Art von Kontakt und muss man das wirklich so handhaben?
Eine echte Notwendigkeit gibt es nicht, niemand von uns wird gezwungen, auf eine Bühne zu gehen und für andere Menschen zu spielen. Wir Künstler, egal wie alt, erbringen eine Dienstleistung, für den Komponisten oder für das Publikum. Die Künstler, die Sie nannten, sind fest davon überzeugt, dem Komponisten zu dienen. Mein Argument ist dann immer: Warum ist es dann von Bedeutung, wer im Publikum sitzt? Es sollte viele Möglichkeiten geben, Künstler zu sein – und das immer mit Respekt für die Musik. Mein größter Wunsch: Beide Lager verstehen sich gegenseitig und arbeiten gemeinsam.
Geiger Ray Chen: „Mit jedem Bruchteil einer Note kann sich alles ändern“
Sie sind in Taipeh geboren und in Brisbane in Australien aufgewachsen. Sie waren eine Art Wunderkind, große Erwartungen, das erste Konzert mit Orchester mit acht Jahren, Auftritt bei Olympischen Winterspielen mit neun, als Teenager zum Studium in die USA nach Cleveland, auf einen anderen Kontinent. In einem Magazin-Porträt sagten Sie, das erste Jahr in Cleveland sei „ziemlich hart“ gewesen. Eine Kammermusik-Probe wäre wie eine Szene aus „Hunger Games“ abgelaufen. Sie wären rausgekommen, hätten trotzdem irgendwie bis zum Ende durchgehalten. Und seien danach nach Hause, um zu weinen. „Die ersten zwei Jahre waren die finstersten meines Lebens.“ Das klingt heftig. Wie kamen Sie aus diesem Loch heraus?
Stimmt, das war wirklich hart, jetzt ist es nur noch eine Geschichte über das Durchhalten. Wie kam ich raus? Ich versuchte einfach alles, war bei allen möglichen Lehrern, und bin jemand, der kreativ mit solchen Situationen umgeht. Das hat sehr geholfen. Hindernisse gibt es immer im Leben. Also: sich den Kopf einschlagen oder es später oder anders versuchen?
Musiker ist ein brutaler Beruf?
Auf jeden Fall ist es nicht einfach. Ich glaube nicht, dass andere Berufe einfacher sind. Als Musiker wird man ständig daran erinnert, ob man gut genug ist oder nicht. Es gibt sehr viele Beurteilungsgrade. Aber wenn man ohne nicht leben kann, dann: nur zu!
Wenn jemand diesen Ehrgeiz hat, so wie auch Sie, wie unschön ist es dann, womöglich nach dem zweiten gespielten Takt zu merken, dass man bei diesem Konzert keine Zehn sein wird, sondern schon über eine Vier froh sein kann?
Ok, stellen wir uns vor, ich habe den Anfang versemmelt, irgendetwas lief schief. Aber für mich ist jeder Moment auch ein Wendepunkt. Ständig kann alles passieren. Genau dafür übe ich. Mit jedem Bruchteil einer Note kann sich alles ändern und man ist wieder in der Spur und wieder auf dem Weg zur Zehn. Festgefahren ist man nie.
Ray Chen: „Üben ist eine sehr einsame Angelegenheit“
Vor einigen Jahren saßen Sie in einem Flugzeug von Amsterdam nach Lissabon fest, das einen Umweg fliegen musste – und haben Bach gespielt, um die anderen Passagiere ruhig und bei Laune zu halten.
Tatsächlich gab es wohl eine Bombendrohung, die Leute waren nervös. Und nachdem wir über eine Stunde auf der Rollbahn gestanden hatten, waren alle genervt. Die Musik war keine Beruhigung, sondern eher eine Ablenkung. Dieser Auftritt zeigte in Reinform, was es bedeutet, Musiker zu sein: Man ist dafür da, Menschen zu unterhalten. Es geht weder um mich noch um etwas anderes. Und jeder dort erkannte: Wow, das ist toll. Wie oft höre ich schon mal eine Geige in einem Flugzeug?
Wenn ich mich nicht verzählt habe, spielen Sie jetzt Ihre vierte Stradivari. Sind Sie derart wählerisch oder sind diese Instrumente doch nicht so toll, wie alle immer sagen?
Vier hat sich schon erledigt, wir sind bei Nummer sechs oder sieben… Manche haben das Glück, solch ein Instrument zur Verfügung langfristig gestellt zu bekommen. Bei mir war es immer nur für einige Jahre, dann musste ich es wieder zurückgeben. Also ergab sich das Wechseln aus dieser Notwendigkeit. Natürlich würde ich mir gern eine eigene leisten können. Andererseits ist es aber auch großartig, diese Instrumente zu erleben. Und: Wie ist es denn mit Pianisten und Pianistinnen? Bei jedem Konzert ein anderes Instrument, und dennoch behalten sie ihren Klang bei sich. Sollten wir Geiger uns davon nicht inspirieren lassen? So gehe ich vor. Lebenslang mit einem einzigen Instrument unterwegs? Fein, freut mich für dich. Aber wie viel schöner ist es doch, zehn oder mehr tolle Instrumente kennenzulernen!
Mit der App Tonic haben Sie eine Online-Plattform entwickelt, auf der sich Musikerinnen und Musiker beim Üben vor ein Publikum stellen können – und wenn es nur ein einzelner Mensch ist. Ist das aber nicht der empfindlichste Moment für einen Künstler? Man möchte sich doch lieber zeigen, wenn man das jeweilige Stück auch wirklich draufhat.
Üben ist „work in progress“. Normalerweise ist man noch nicht bereit für Zuhörer. Aber Üben vor Publikum ist als Konzertdurchlauf womöglich nicht die schlechteste Vorbereitung, wenn ein großer Auftritt ansteht. Das ergibt sich aber nicht immer. Ist man schon ein großer Künstler, wollen alle einem zuhören. Bei der App geht es um Zugang, um das Teilen von Wissen. Und sie nimmt sich auch des Themas Einsamkeit an, denn Üben ist eine sehr einsame Angelegenheit.
Zum Abschluss ein Zitat aus dem „Sidney Morning Herald“ von 2011, da waren Sie 22: „Schon als Kind sei er eine Art Angeber gewesen, sagte er.“ Stimmte das damals, stimmt es heute?
Oh… Mit dieser Frage habe ich lange zu kämpfen gehabt. Bin ich ein Angeber? Und: Warum liebe ich es, für Menschen Musik zu machen? Als Kind fand ich es toll, meine Geige in die Schule mitzubringen. Ständig habe ich die Lehrer gefragt, ob ich für die anderen spielen könnte. Der eine oder andere hat mich dann womöglich für einen Angeber gehalten und das bleibt hängen. Den Wachstumsprozess daraus erkenne ich jetzt, es setzte sich sogar bis in dieses Interview fort. Damals hatte ich mich immer noch gefragt: Bin ich ein Angeber? Es brauchte weitere zehn Jahre, bis mir klar wurde: Nein, ich stehe nicht auf das Angeben. Ich liebe das Teilen.
Aufnahme: Ray Chen „The Golden Age” Musik von Satie, Debussy, Bruch u.a. (Decca, CD ca. 12 Euro). Mehr über die Übe-App unter www.jointonic.com