Hamburg. Ein Viertel der Viertklässler kann nicht lesen. Weil der Staat seiner Aufgabe nicht nachkommt – sagt eine, die es wissen muss.
Dieses Ergebnis ist ein Desaster: Die internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) hat ergeben, dass ein Viertel der Viertklässler in Deutschland nicht das Mindestniveau beim Lesen erreichen, das für die Anforderungen in den nachfolgenden Klassenstufen erforderlich ist. Das ist ein noch schlechteres Ergebnis als 2017. Damals lag die Quote bei 19 Prozent.
Zudem schneiden deutsche Schülerinnen und Schüler auch im internationalen Vergleich schlechter ab. Forscher und Bildungspolitiker stufen die neue Studie als alarmierend ein. Kinderbuchautorin Kirsten Boie, die 2018 die Petition „Jedes Kind muss lesen lernen“ ins Leben rief, äußert sich nun im Abendblatt zum Thema – unmissverständlich.
Kirsten Boie über Lese-Fiasko: „Bin unglücklich und wütend“
Hamburger Abendblatt: Was ging Ihnen als Erstes durch den Kopf, als Sie die Iglu-Studie lasen?
Kirsten Boie: Ich habe mich gefragt, was das für unsere Zukunft bedeutet. Diese 25 Prozent der Viertklässler, die nicht ausreichend lesen können, werden ja schon ab Klasse fünf in allen Unterrichtsfächern scheitern. Und später dann keinen qualifizierten Beruf erlernen können. Auch in der Berufsschule und im beruflichen Alltag muss man lesen können.
Wir klagen seit Jahren über Fachkräftemangel – aber jedes Jahr gehen uns etwa 40.000 Menschen schon in der Grundschulzeit verloren! Dabei hat schon die PISA-Studie 2001 gezeigt, dass 21 Prozent der Jugendlichen in Deutschland damals die Schule verlassen haben, ohne ausreichend lesen zu können. Genau diese PISA-Jugendlichen fehlen uns heute in allen möglichen Berufen. Wir wissen doch Bescheid! Aber es passiert viel zu wenig.
Wie skeptisch waren Sie vor diesen neuen Zahlen?
Kirsten Boie: Sehr. Ich sehe ja seit Jahren, wie langsam es vorangeht. Es ist nicht unbedingt so, dass Politiker und Politikerinnen das Problem nicht sähen: Aber vielfach fehlt ihnen das konkrete Wissen, was genau passieren müsste. Und jedes Bundesland muss ja seine Bildungspolitik immer für sich alleine entwickeln – Bildungspolitik ist in Deutschland Ländersache.
Wenn ein Land durch bestimmte Projekte und Methoden Erfolge beim Thema Lesekompetenzentwicklung erzielt – Hamburg etwa steht da erfreulich gut da –, dann ist es ja nicht so, dass die anderen Bundesländer automatisch davon wüssten oder die Hamburger Maßnahmen übernehmen würden. Bei der Kooperation der Länder auf diesem Gebiet muss unbedingt noch einiges passieren. Andere Länder ohne Bildungsföderalismus haben es da leichter.
Die Corona-Pandemie als Grund für das noch schlechtere Ergebnis als vor fünf Jahren?
Warum hat sich Ihrer Meinung nach die Lesebefähigung von Grundschülern noch weiter zurückentwickelt?
Kirsten Boie: Es ist klar, dass die Corona-Pandemie in nicht geringem Maße zu den verheerenden Zahlen beigetragen hat. Aber wir dürfen um Himmels willen nicht alles darauf schieben: Schon bei der letzten Iglu-Untersuchung 2017 konnten ja 19 Prozent der Grundschulkinder am Ende der Schulzeit nicht lesen, jetzt sind es 25 Prozent, also sechs Prozent mehr. Und die Kinder in dieser neuen Untersuchung haben ja nur das letzte Schuljahr unter der Pandemie gelitten, die drei Jahre davor waren ganz normale Lernjahre. Also: Corona trägt eine Mitschuld. Aber mehr nicht.
Um was geht es noch im Hinblick auf die weitere Verschlechterung?
Kirsten Boie: Das Leben von Kindern hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Durch die digitalen Medien, mit denen schon Zweijährige auf Bahnfahrten ruhiggestellt werden, verliert sich die Motivation zum Lesenlernen immer mehr, und Motivation brauche ich für die Anstrengungsbereitschaft, die nötig ist, um den sehr, sehr schwierigen Prozess des Lesenlernens durchzuhalten. Unsere Gehirne sind dafür nämlich nicht gemacht. Mit dem Lesen versuchen wir ein bisschen, das was die Natur in uns angelegt hat, auszutricksen.
Und wir haben immer mehr Kinder mit nicht deutscher Familiensprache, deren Sprachkompetenz dann bei der Einschulung nicht ausreicht, um Lesen zu lernen, und biodeutsche Kinder, denen nicht vorgelesen und mit denen in der Familie zu wenig gesprochen wird, mit denselben Defiziten. Dabei würden wir all diese Kinder in wenigen Jahren so dringend brauchen als Ingenieure oder Pflegekräfte oder Mechatroniker! Aber wenn ihre Sprachfähigkeit nicht ausreicht, um Lesen zu lernen, wird das leider nicht klappen. Wir haben in Deutschland viel zu lange übersehen, dass entscheidende Weichen schon vor der Schule gestellt werden und es darum geht, bei Kindern in der Kita oder einem verpflichtenden Vorschuljahr die Grundlagen zu legen.
Autorin Kirsten Boie: Die Vermittlung von Lesekompetenz als „staatliche Aufgabe“
Was läuft in pädagogischer und gesellschaftlicher Hinsicht falsch?
Kisten Boie: Vielfach wird noch immer gesagt: Dafür sind doch eigentlich die Eltern zuständig! Die sollen vorlesen, mit ihren Kindern üben – aber dabei übersehen wir, dass viele Eltern dazu eben aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sind. Lesekompetenz zu vermitteln ist eine staatliche Aufgabe, ob ein Kind lesen lernt oder nicht, darf nicht davon abhängen, in welche Familie es hineingeboren wurde.
Iglu verdeutlicht auch, wie entscheidend für die schulischen Leistungen ist, aus welchem Milieu das jeweilige Kind kommt.
Kirsten Boie: Iglu hat wieder gezeigt, dass der familiäre Hintergrund auf dramatische Weise darüber entscheidet, welches Kind lesen lernt und welches nicht; in Deutschland vererbt sich Bildungsarmut in erschreckendem und beschämendem Maße. Und Lesen wird eben nie ein akutes Problem sein, auf das die Politik sofort reagieren muss wie auf Corona oder der Ukraine-Krieg – dabei ist es das Nadelöhr hin zu gesellschaftlicher Teilhabe, von dem alles Spätere abhängt. Die Konsequenzen der mangelnden Lesefähigkeit eines Viertels unserer Kinder sehen wir erst in der Zukunft. Darum schiebt die Politik das Problem vor sich her – das ist so ähnlich wie im Umgang mit der Klimakrise.
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Sind Politik und Bildungseinrichtungen zu sorglos gewesen in den vergangenen Jahren?
Kirsten Boie: Vielfach waren sie auch einfach nur hilflos. Und sowohl Ländern, die für die Schulen zuständig sind, als auch Kommunen, die für die Sprachförderung in den Kitas zuständig sind, fehlen natürlich auch die Mittel für all das, was nötig wäre: Sprachförderung vor der Schule – und dafür mehr und qualifizierte Erzieherinnen und Erzieher und kleinere Kita-Gruppen –, mehr Studienplätze für Grundschullehrer/-innen.
Mehr Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer, Weiterbildung in evaluierten oder evidenzbasiert erfolgreichen Verfahren für Lehrkräfte. Schulbüchereien für alle Schulen und die Mittel für deren fachliche Betreuung; und Aufwandsentschädigungen für die vielen in diesem Bereich ehrenamtlich Tätigen, ohne die wir noch lange Zeit nicht auskommen werden. Um nur einiges zu nennen. Länder und Kommunen können diese Aufgaben finanziell unmöglich alleine stemmen, sie brauchen finanzielle Unterstützung durch den Bund, die ja ihre föderalen Kompetenzen nicht beschneiden würde.
Die Lese-Krise als Gefahr für die Demokratie
Was droht uns gesellschaftlich, wenn die Entwicklung nicht aufgehalten wird?
Kirsten Boie: Der Fachkräftemangel, den wir ja jetzt schon überall schmerzhaft spüren und der durch das Ausscheiden der Boomer noch massiv zunehmen wird, wird sich dramatisch steigern, weil Menschen ohne Lesekompetenz eben gerade im Bereich neuer Technologien, wie wir sie etwa bei der Bekämpfung des Klimawandels brauchen, schwer ausgebildet werden können. Und da Menschen, die nicht lesen können, sich auch in politischen Fragen kaum über komplexe Zusammenhänge informieren können, sehe ich eine echte Gefahr für die Demokratie. Der Zulauf für Populisten wird zunehmen.
Sie selbst engagieren sich seit Langem für die Leseförderung. Inwiefern trifft Sie das schlechte Ergebnis persönlich?
Kirsten Boie: Darum kann es ja eigentlich nicht gehen. Ich bin unglücklich. Und, ja, auch wütend. Und ich hoffe, dass es noch nicht zu spät ist, um endlich das Ruder herumzureißen.
Was muss jetzt geschehen?
Kirsten Boie: Ich wünsche mir, dass die Wirtschaft, die doch die Konsequenzen spürt und schon seit Jahren über den Mangel an ausbildungsfähigen Jugendlichen klagt, sich hier endlich viel stärker engagiert und auf allen Ebenen eine Lobbyarbeit betreibt, die zeigt, wie akut und relevant dieses scheinbar kleine Thema ist: Vom Lesenkönnen hängt alles Weitere ab! Damit könnte sie in der Politik für mehr Tempo sorgen.
Und ich wünsche mir ein Sondervermögen Bildung, mit dem der Bund Länder und Kommunen bei ihren Aufgaben unterstützt – wenn es möglich sein soll, die großen Schulden zu tilgen, die durch andere Sondervermögen in den letzten Jahren entstanden sind, brauchen wir Menschen, die fachlich qualifiziert sind und die Steuern zahlen. Wenn ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands funktionale Analphabeten sind, sieht es dafür schlecht aus.