Lüneburg. Lüneburger Lesefest will schon die Kleinsten für Bücher begeistern. Wo Kirsten Boie die größten Versäumnisse und Chancen sieht.
Die Plätze im Huldigungssaal des Lüneburger Rathauses sind bis auf den letzten Platz besetzt, als sich die Hamburger Kinderbuchautorin Kirsten Boie und die NDR-Redakteurin Katharina Mahrenholtz am Dienstagabend über eines der wichtigsten Bildungsthemen unserer Zeit unterhalten – der Leseförderung. Es ist der Auftakt des diesjährigen „Lesefest Lüneburg“, das von der Ratsbücherei Lüneburg, Lünebuch und dem Literaturbüro veranstaltet wird.
In dem atmosphärischen Saal voller Wandgemälde mit Naturmotiven geht es direkt zur Sache. „Was bewegt das Lesen in unseren Herzen?”, fragt Jule Grunau, ehrenamtliche Bürgermeisterin der Stadt Lüneburg und beschreibt, wie sie oft nicht das Haus verlassen möchte, wenn sie wieder ein besonders gutes Buch liest. Den meisten Anwesenden scheint das ein bekanntes Gefühl zu sein – doch nicht jeder in Deutschland kann fließend lesen. Und was bedeutet es eigentlich?
Ein Kind in der 2. Klasse muss in drei Minuten 20 Sätze lesen
Per Definition muss ein Kind in der 2. Klasse in drei Minuten 20 Sätze lesen und deren Sinn verstehen können. Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) von 2017 ergab allerdings, dass rund jeder fünfte Viertklässler in Deutschland daran scheitert. Während es 2001 noch einen großen Medienrummel um ein ähnlich schlechtes Ergebnis der damaligen Pisa-Studie gab, fielen die Reaktionen 2017 gering aus. Und auch der Rummel von damals bewirkte wenig: Die Scham über das schlechte Ergebnis stand eher im Fokus als die schwerwiegenden Folgen für die Kinder, die auch als Jugendliche nicht richtig lesen können.
Die Autorin sieht zwei Ursachen für die fehlende Lesekompetenz. Die erste sei die Sprachkompetenz: „Die deutsche Sprache muss beherrscht werden, damit man lesen lernen kann.“ Das bezieht sich nicht nur auf Kinder mit Zuwanderungsgeschichte. Auch viele Kinder, die zu Hause ausschließlich mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen sind, haben Probleme beim Lesenlernen, wenn sie regelmäßig auf Wörter stoßen, die sie nicht kennen und erst einmal buchstabieren lernen müssen.
Der Weg zur Leseratte sei vergleichbar mit dem eines Fußballstars, sagt Boie
Die zweite Ursache finde sich dann allerdings in der Schule. Häufig werde der Ansatz verfolgt, Lesen müsse als Spaß verkauft werden. Kirsten Boie vergleicht das Lesenlernen mit dem Weg eines Kindes zum Fußballstar: „Wer nur einmal in der Woche für eine halbe Stunde übt, wird sein Fach nicht beherrschen, auch wenn diese halbe Stunde Spaß macht.“ Der Unterricht an Schulen müsse umgestellt werden: Lesen, so die erfolgreiche Kinderbuchautorin, sei eine Kernkompetenz für gesellschaftliche Teilhabe in Deutschland. Fehlt diese, stünden die Chancen auf dem Arbeitsmarkt später sehr schlecht.
Mitte 2018 veröffentlichte Kirsten Boie zusammen mit vielen bekannten Persönlichkeiten die Erklärung „Jedes Kind muss lesen lernen“. Innerhalb von drei Monaten unterzeichneten sie 110.000 Menschen und versuchten so einen Appell an die Kultusministerkonferenz und das Bildungsministerium auszusprechen. Die Reaktion darauf: „Danke für das Engagement, wir arbeiten bereits daran“ fasst Boie in Lüneburg zusammen.
Der klassische Tipp für Zuhause bleibt allerdings das Vorlesen
Immerhin gibt es in Hamburg schon viele Projekte, um das Lesen zu fördern. „Gedichte für Wichte“-Gruppen, in denen spielerisch die ersten Bücher angeschaut werden. Und Angebote für Kinder von ein bis vier Jahren bei der Aktion „Buchstart“. Der klassische Tipp für Zuhause bleibt allerdings das Vorlesen. So lange es geht und auch immer dasselbe Buch, wenn das Kind es eben wünscht. „Die Kinder wissen es nicht und wir auch nicht, aber es gibt einen Grund, warum sie immer dasselbe Buch lesen möchten“, sagt Kirsten Boie, die als Kind genauso wie Katharina Mahrenholtz Wilhelm Busch vorgelesen bekam.
Auch die Reizüberflutung wird in Lüneburg diskutiert. Kleine Kinder spielten schon an den Tablets und Handys ihrer Eltern, seien an die visuellen Reize gewöhnt – da falle es schwer, sich an Geschichten ohne Bilder zu wagen.
Am liebsten hätte die Kinderbuchautorin ein Sondervermögen
Boies Wünsche für die Zukunft der Kinder? Mehr Mittel vom Staat für die Förderung von Erzieherinnen und Erziehern, damit diese schon früh mit der Begeisterung für Bücher in Kitas beginnen können. Geld für Projekte an Schulen, die oftmals viel Geld kosten. Mehr Studienplätze, damit mehr Menschen auf Lehramt studieren können.
Am liebsten hätte die Kinderbuchautorin ein Sondervermögen. Das eine oder andere hätte es in den vergangenen Jahren schließlich auch für andere Zwecke gegeben. Außerdem wäre eine bundesweite Evaluation funktionierender Projekte ratsam, damit nicht jedes Bundesland etwas eigenes macht. Schließlich gebe es viele gute Projekte, allein in Hamburg.
Egal, ob Krimi, Roman oder Graphic Novel – Hauptsache, das Kind liest
Was jedoch eine positive Entwicklung der letzten Jahre sei – und da stimmen die beiden Diskutierenden überein – die hohe Zahl derer, die dank Social Media zum Lesen kommen und ihre Freude daran teilen. Auf Buchmessen sehe man große Mengen Bloggerinnen und Blogger, und das sei wichtig – dass sich junge Menschen, deren Leben sich zu vielen Teil online abspielt, gesehen fühlen und dort Gleichgesinnte finden. Irgendjemanden, der dasselbe Buch liebt, finde man immer.
Dabei ist es egal, ob Krimi, Roman oder Graphic Novel. Auch die „leichte Lektüre“ hat ihre Daseinsberechtigung. Viel wichtiger: dass Kinder überhaupt lesen.
Das Lesefest-Programm am Sonnabend, 11. Februar:
10.30 bis 12.30 Uhr: Kinder- und Jugendbücherei Lüneburg: Bastelaktion zu Geschichten des Bilderbuchkinos. 11 Uhr: Kinder- und Jugendbücherei Lüneburg: Bilderbuchkino „Pettersson – Aufruhr im Gemüsebeet“ (Deutsch-Ukrainisch). 11 bis 14 Uhr: Lünebuch: „Quizzt mit uns!“, ein Quiz durch die Kinderbuchabteilung. 12 Uhr: Kinder- und Jugendbücherei: Bilderbuchkino „Der Regenbogenfisch“ (Deutsch-Arabisch), 15 Uhr: Ratsbücherei: Lesung „Tuuli und die geheimnisvolle Flaschenpost“.
Das Lesefest-Programm am Sonntag, 12. Februar:
11 Uhr: Lünebuch: Lesung Daniel Bleckmann und Thomas Hussung: „KoboldKroniken – Sie sind unter uns”. Ab 9 Jahren, Eintritt 5 Euro. 16 Uhr: Lünebuch: Sams-Zeichenkurs mit der Illustratorin Nina Dulleck. Ab 8 Jahren, Eintritt 5 Euro. Tickets bei Lünebuch und der Ratsbücherei.
www.lesefest-lueneburg.de