Hamburg. Ein hoch glaubwürdiges Drama aus New York, fantastisch besetzt und beim renommierten Sundance-Festival ausgezeichnet.
Dieser Film riecht in jeder Einstellung nach New York – wenn die Kamera gleich zu Beginn über Rikers Island fliegt und später immer wieder Klinkerfassaden aus Brooklyn und Harlem diese Mutter-Sohn-Geschichte verorten. Wenn wir den Müll auf den Straßen sehen, dazu die Musik vom Wu-Tang-Clan hören oder die schnarrende Stimme von Bürgermeister Rudy Giuliani, der im Radio davon schwärmt, New York zu einem besseren Platz zu machen; „strong and safe“.
Dann sind wir so tief in den Neunzigern gelandet, dass wir uns nicht wundern würden, träte ein Robert De Niro aus dem Taxi, die Welt zu retten vor all dem Elend und jenen „Law & Order“-Menschen, die dieses beseitigen wollen.
Kino Hamburg: „A Thousand and One“ – wahre Gefühle im falschen Leben
Es ist auf jeden Fall ein verlorener Platz für die 22-jährige Inez (Teyana Taylor), schwarz, arm, laut, große Ohrringe, dicke Kette, die wir zu Beginn bei ihrer Entlassung aus dem Gefängnis und auf der Suche nach einem Unterschlupf sehen. Ihr sechsjähriger Sohn Terry (Aaron Kingsley Adetola) ist in einem Pflegeheim untergebracht, aus dem sie ihn bei dessen Krankenhausaufenthalt einfach entführt.
Ihm einen falschen Namen gibt. Mit ihm vorerst bei einer Freundin (samt deren feindseliger Mutter) unterkommt. Eine gnädige Vermieterin findet. Arbeit und gar einen Liebhaber, Lucky (Will Catlett), der Terry ein Kruzifix, eine Kette und den Hinweis gibt, er solle nicht die gleichen Fehler machen wie er einst.
„Warum hast du mich an einer Straßenecke stehen lassen? Wo ist mein Vater?“
Terry wächst heran und mit ihm die Hoffnung auf den amerikanischen Traum, aufzusteigen aus widrigen Verhältnissen, eine bessere Schule zu besuchen, ja sogar die hübsche Bedienung aus dem Café zu daten. Sodass er allmählich die Fragen vergisst, mit denen er seine Mutter jahrelang konfrontiert hat: „Warum hast du mich an einer Straßenecke stehen lassen?“ Oder: „Wo ist mein Vater?“
Da keimt ein Leben auf, „strong and safe“ – aber diese Worte sind falsch wie seine Sozialversicherungsnummer, weswegen der Film umkippt und wir nun Zeuge wahrer Gefühle im falschen Leben sind, mit bequemen Lügen und bitteren Wahrheiten.
Und das Schöne an dem wunderbaren Film „A Thousand and One“, dem Sieger des Sundance-Festivals 2023, ist, dass er seine sehr zwiespältige Heldin nicht verurteilt, sondern mit viel Zärtlichkeit an die Hand nimmt, ihre Ausbrüche und Lautstärke verständlich macht als Reaktion auf den widrigen Mix aus Rassismus, Bürokratie und Gentrifizierung.
So unspektakulär diese Geschichte scheint, so sensationell ist sie in ihrer Umsetzung
Teyana Taylor spielt diese Inez voller Herzblut als Black-Power-Woman in diesem so stimmungsvollen wie stimmigen Drama, dessen Titel den Kampf eines Einzelnen gegen die ganze Stadt symbolisiert, eine gegen Tausende. So unspektakulär diese Geschichte scheint, so sensationell ist sie in ihrer Umsetzung. Mit nuancierten Menschenporträts vom stets zweifelnden Terry (den drei Schauspieler verkörpern) über den liebevollen Lucky, dessen Optimismus keine Chance hat, bis zu in ihrer Hilfsbereitschaft letztendlich eingeschränkten Menschen.
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Hoch glaubwürdig inszeniert das die schwarze Regisseurin A.V. Rockwell, selbst eine New Yorker Pflanze aus Queens, die ihrer Heimatstadt und den dortigen Menschen hier ein Denkmal gesetzt hat. Es riecht bittersüß.
„A Thousand and One“ 117 Minuten, ab 12 Jahren, läuft am 18.5. im Abaton und Studio-Kino