Hamburg. In seinem neuen Film beschäftigt sich Regisseur İlker Çatak mit Ereignissen an einer Schule. Eine Lehrerin hat ihn sich für uns angesehen.
Ali war es nicht. Gut, er hatte mehr Geld in seinem Portemonnaie als die anderen aus seiner Klasse. Sehr viel mehr sogar. Aber damit sollte er nach der Schule ein Geburtstagsgeschenk kaufen, behauptet er. Stimmt, sagen seine Eltern. „Mein Sohn klaut nicht“, bekräftigt der Vater. „Und wenn er klaut, brech ich ihm die Beine.“
Alles klar also. Die Schulleitung lässt Ali und seine Eltern gehen. Zwar hatte die Familie untereinander türkisch gesprochen, was man ja nicht verstehen konnte, und vielleicht hatten sie sich abgesprochen, aber nein – man will an dieser Schule niemanden ohne Beweise verurteilen, das verlangt die Fairness. Und der Verdacht, Ali habe einem Kind aus der Klasse Geld gestohlen, konnte nicht bewiesen werden.
„Null Toleranz“ hat sich das Emmy-Noether-Gymnasium auf seine Fahnen geschrieben. Mobbing, Vorverurteilungen, Gewalt gegen andere, Diebstahl – so etwas wird hier nicht geduldet. Wert gelegt wird auf demokratische Abstimmungen, das gemeinsame Suchen nach Lösungswegen.
„Das Lehrerzimmer“ wurde in Hamburg gedreht
Für seinen komplett in Hamburg am Albert-Schweitzer-Gymnasium gedrehten Film mit dem spröden Titel „Das Lehrerzimmer“, der am Dienstag im Zeise Premiere hat und am 4. Mai regulär startet, hat Regisseur İlker Çatak (mit Johannes Duncker auch für das Drehbuch verantwortlich) das Schulleben sehr genau studiert. Das Setting ist glaubhaft für alle diejenigen, die wie die Autorin dieses Textes tatsächlich Lehrerzimmer von innen kennen und jahrelang im Schuldienst tätig waren.
Da sind auf der einen Seite die hehren Ansprüche – und auf der anderen eine Wirklichkeit mit hohem Lärmpegel in den Gängen, winzigen Arbeitsflächen im Lehrerzimmer, viel zu kurzen Pausen, in denen noch schnell ein paar Arbeitsblätter kopiert, die letzten Dinge zur Klassenfahrt geregelt oder „ganz kurz nur“ ein Kollege über einen Schüler sprechen möchte.
Eine Wirklichkeit, in der Schulleitungen den doppelten Spagat zwischen Schülerschaft, Lehrkräften, immer mächtiger werdenden Eltern und dem Ministerium vollführen und im besten Fall eine klare, nachvollziehbare Haltung zeigen können. Das schaffen aber nur die wenigsten. Viele sind überfordert und eiern herum mit dem Ziel, es jedem recht machen zu wollen.
Eine junge Lehrerin trifft auf eine komplizierte Realität
In dieser der Realität so genau abgeschauten Grundsituation befindet sich die junge Lehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch). Voller Elan, voller guter Ideen zu einem modernen Unterricht hat sie ein halbes Jahr zuvor ihren Dienst angetreten.
Zu ihrer siebten multikulturellen Klasse hat sie ein gutes Verhältnis, ihre teambildenden Übungen haben dazu beigetragen. Als jemandem aus der Klasse Geld gestohlen worden ist, sollen die beiden Klassensprecher bei der Schulleitung mögliche Verdächtige nennen.
Freiwillig natürlich, und reden müssen die beiden, die sich offensichtlich zutiefst unwohlfühlen, auch nicht. Es reicht, wenn sie beim Durchgehen der Namensliste nicken. Ist das jetzt Anleitung zum Petzen? Denunzieren? Oder wird damit nur der „Null Toleranz“- Grundsatz respektiert?
Die Kamera (Judith Kaufmann) bleibt hier wie oft im weiteren Verlauf des Films dicht an den Gesichtern der Beteiligten. Sie zeigt die Unsicherheit der Schulleiterin (Anne-Kathrin Gummich), die alles richtig machen möchte, sie zeigt aber auch, wie Carla unmerklich den Kopf schüttelt, weil sie mit diesen Methoden überhaupt nicht einverstanden ist.
Heimliches Filmen soll die Diebstahlserie an der Schule aufklären
Die Diebstahlserie hat sich auf die gesamte Schule inklusive Lehrkörper ausgeweitet. Durch Carlas Idee, das Ganze mit dem heimlichen Filmen ihrer Jacke (mit Portemonnaie) im Lehrerzimmer aufzudecken, wird die langjährige Sekretärin Frau Kuhn (Eva Löbau) als mutmaßliche Täterin scheinbar entlarvt. Bewiesen ist nichts, aber Carla gerät in die Schusslinie von Kollegen („Spitzel!“), der Schulleitung, die das unerlaubte Filmen der Schulaufsicht melden muss, und von aufgebrachten Eltern.
Der dargestellte Elternabend mag überspitzt erscheinen, kann aber tatsächlich genau so ablaufen: Über WhatsApp organisierte Eltern treten als geballte Macht auf. Durch Informationen ihrer Kinder und anderer Eltern (jeder weiß nur einen Teil und den nicht so genau) haben sie sich in ihrer WhatsApp-Gruppe ein Bild gemacht und konfrontieren damit die Lehrkraft, die alle Mühe hat, sich zu rechtfertigen.
Das Lehrerzimmer wird zum Mikrokosmos unserer Gesellschaft
Was Carla, die weiter tapfer unterrichtet und den Glauben an ihre Klasse nicht verliert, innerlich durchmacht, teilt sich meist nur durch die nervös gezupften oder explodierenden Streicher (Musik: Marvin Miller) mit.
Was ist wahr, was hinzugedichtet und was frei erfunden, wann ist Solidarität richtig oder problematisch, und wie schnell kann sich eine Gemeinschaft spalten – in Çataks großartigem Film wird das Lehrerzimmer zum Mikrokosmos unserer Gesellschaft.
„Das Lehrerzimmer“ Premiere mit İlker Çatak, Leonie Benesch u.a., Di, 25.4.,19.30, Zeise-Kino. Karten: zeise.de, regulärer Kinostart: 4.5.
Autorin Susanne Oehmsen war bis 2021 Lehrerin an einem Gymnasium. In ihrem Blog www.theaterzeithamburg.de schreibt sie für Lehrkräfte zu aktuellen Inszenierungen an Hamburger Theatern.