Sein Werk „Victory City“ war vor dem Angriff schon fertig. Das Schicksal des Autors nimmt der Text auf unheimliche Weise vorweg.

Vijayanagar gab es wirklich. Ein hinduistisches Königreich im Süden Indiens, das etwa von Mitte des
14. bis Mitte des 16. Jahrhunderts bestand. Das ist ungefähr die Zeit, in der Pampa Kampana lebt, die Superheldin des neuen Romans von Salman Rushdie. Er erscheint nun auf Deutsch und nicht lange nach dem englischen Original. Beide Ausgaben tragen den Titel „Victory City“, auf Deutsch also „Stadt des Sieges“ – die jeweilige Übersetzung von „Vijayanagar“.

Salman Rushdie berichtete zuletzt, der Roman sei vor dem 12. August 2022 bereits fertig gewesen. Dies war der zweite Tag im Leben des indisch-britischen Schriftstellers, der eine Zäsur in seinem Leben bedeutete. Über Rushdie war am 14. Februar 1989 eine „Fatwa“ verhängt worden; ein Todesurteil des iranischen Religionsführers Ruhollah Chomeini nach dem Erscheinen von Rushdies Roman „Die satanischen Verse“. Danach lebte der Autor jahrelang versteckt, war auf der Flucht vor möglichen Häschern.

Salman Rushdie: Angriff auf sein Leben am 12. August 2022

Am 12. August vergangenen Jahres hielt Rushdie einen Vortrag in Chautauqua im US-Bundesstaat New York. Es waren kaum Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Ein 24-jähriger Sohn libanesischer Emigranten, der mit extremistischen religiösen Positionen sympathisierte, attackierte Rushdie mit einem Messer und verletzte ihn lebensgefährlich. Rushdie wurde künstlich beatmet, ist nach dem Angriff auf sein Leben auf einem Auge blind und kann eine Hand nicht mehr bewegen.

Vor diesem Hintergrund liest man nun Rushdies auf manch verbriefte historische Tatsachen gebaute sprudelnde, wilde, lässige und komische, märchenhafte Geschichte. Es ist eine Story mit Mord und Totschlag, religiösem Fanatismus, dem Kämpfen für Toleranz und weiblicher Ermächtigung.

„Victory City“: Glaubenskriege zwischen Hindus und Muslimen

Die Romanfigur Pampa Kampana ist die Gründerin der Stadt Bisnaga, deren Vorbild das historische Vijayanagar ist. Bisnaga entstand aus einer Handvoll Samen, die das Waisenmädchen Pampa ausstreute. Es ist viel Magie im Spiel. Pampa Kampana ist auch die Urheberin des elend langen Vers-Werkes, das der namenlos bleibende Erzähler für seine Version der Geschichte komprimiert hat.

Er berichtet vom etwa 250 Jahre langen Leben Pampas. Und bettet die fantastischen Umstände ihrer Biografie – sie altert nicht, sie hat Zugang zum Bewusstsein der Menschen, sie kann sich in einen Vogel verwandeln – in überliefertes geschichtliches Geschehen ein. In „Victory City“ gibt es Glaubenskriege zwischen Hindus und Muslimen, die ihre Entsprechung in der Realität hatten. Auch massenhafte Selbstverbrennungen von Frauen nach dem Kriegstod von ihren Männern soll es gegeben haben.

Salman Rushdies Rückkehr nach Indien mit einer feministischen Story

Genau so fand Pampas Mutter ihr Ende, und Pampa isst hernach keine Tiere mehr. Sie kann den Geruch gebrannten Fleischs nicht ertragen. Aus der ewig jungen Frau wird ein Machtfaktor, die verkörperlichte Version einer Göttin auf Erden. Diese Göttin hat sie ausgewählt, um ihre feministische Agenda in der totalen Mann-Gesellschaft durchzudrücken.

Pampa soll Frauen endlich zu gleichberechtigten Mitgliedern der Gesellschaft machen. Sie soll „für eine Welt kämpfen, in der die Männer lernen, Frauen mit neuem Blick zu sehen“, gibt ihr die Göttin mit auf den Weg. Diese revolutionäre Idee kann Pampa im Verlauf der Jahrhunderte halbwegs erfolgreich in die Realität umsetzen. Aber immer wieder gibt es Rückschläge, weil das destruktive männliche Prinzip die Oberhand gewinnt.

„Victory City“: Ein Märchen mit Heldinnen und Schuften

Pampa Kampana kann als Frau nicht selbst Königin werden, und so heiratet sie nacheinander die Brüder Hukka und Bukka – zwischenzeitlich die Regenten in Bisnaga. Sie sind Geschöpfe ihres Willens. Bisnaga wächst und gedeiht, es herrscht Frieden zwischen den Glaubensrichtungen. Dann kommt ein neues Herrschergeschlecht, Pampa und ihre Töchter müssen fliehen.

Eine gute Mutter ist sie nicht: Ihre Söhne verstieß sie einst. Sie werden später scheußliche, kriegerische Herrscher. Aber die Vorsehung will, dass Pampa, die viele Höhen und Tiefen erlebt, mal an den Schalthebeln der Macht sitzt und mal über Jahrzehnte im Exil ist und nichts zu melden hat, irgendwann zurück im Spiel ist. Als Protagonistin in einem Märchen mit Heldinnen hier und Schuften da.

Salman Rushdies bemerkenswerte erzählerische Vorwegnahme seines Schicksals

Überhaupt ist „Victory City“ vor allem ein Werk darüber, wie leicht zivilisatorische Errungenschaften und das gelingende Nebeneinander von Verschiedenem verloren gehen. Rushdie erzählt über die 400 Seiten seines 15. Romans hinweg schnell und mit Lust an schematisch eingeführten, schnell hingeworfenen Figuren.

Im ersten Satz des Romans ist von Pampa Kampana als „blinder Poetin“ die Rede; wie sie erblindete, wird später erzählt – natürlich als eines derjenigen Kapitel dieses Game of Thrones, in dem sie wieder mal die Verliererin ist. Im Hinblick auf Rushdies späteres eigenes reales Schicksal ist dieser fiktive Gewaltakt bemerkenswert, ja, auch gruselig.