Hamburg. Regisseur Jan Bosse inszeniert „König Lear“ am Thalia Theater. Ein Stück über einen Chef, der einfach nicht loslassen kann.
Regisseur Jan Bosse inszeniert am Thalia Theater wieder einen Stoff von William Shakespeare. Am Sonntag hat „König Lear“ mit Wolfram Koch in der Titelrolle Premiere am Alstertor.
Ein Gespräch über Generationenwechsel, Macht und Erben.
Hamburger Abendblatt: Sie haben schon viele berühmte Shakespeare-Stoffe erfolgreich inszeniert, von „Hamlet“ in Zürich bis „Was Ihr wollt“ am Thalia Theater. Warum nun „König Lear“?
Jan Bosse: Es ist schon so, dass sich jede Zeit in seinen Texten spiegelt, ich finde aber, dass man sie sehr genau lesen muss. Wie ich „König Lear“ lese, gibt es die Diskussion um den alten weißen Mann und die ist ja auch richtig. Wie ein Tyrann seine Nachfolge organisiert oder eben nicht, das ist schon ein Thema. Es gibt eine Art, umzugehen mit Strukturen und Macht und Hierarchien, die wirklich veraltet ist. Und es gibt eine bestimmte tyrannische Verhaltensweise, die zu Recht weggefegt gehört.
Das andere Thema ist Erben, also die Frage, wie hinterlassen wir eigentlich unsere Erde? Was für ein Niemandsland hinterlassen wir da? Man entdeckt darin auch das Disparate der Gesellschaft, diese komischen zerrissenen Strukturen von Diskussion, die so verhärtet sind, dass niemand mehr Lust hat, sich überzeugen zu lassen oder auch nur zuzuhören.
König Lear am Thalia Theater: Shakespeare ist modern wie nie
König Lear will wirklich die Macht loslassen, schafft es aber nicht so ganz. Warum geht das schief?
Wir wissen nicht, was geschehen würde, wenn seine Lieblingstochter Cordelia zu Beginn eine schöne Liebesrede halten würde. Aber dass Lear dieses Modell wählt, bei den Schwestern abwechselnd zu wohnen, seine kleine Privatarmee mitzubringen und den Titel des Königs zu behalten, obwohl er die Macht abgibt, ist ein Problem. Das Reich ist zwar aufgeteilt, aber aus einer Überforderung heraus entsteht ein unklarer Umgang mit dem leeren Sessel. Die Konsequenzen sind brutal.
Die Geschichte vom alternden Patriarchen, der abdankt und seinen Nachlass den drei Töchtern übergibt, klingt nach einer sehr zeitgemäßen Geschichte. Was hätte Shakespeare zu den heutigen Diskussionen um Macht, Diversität und Geschlechtergerechtigkeit gesagt?
Das tolle ist ja, dass er keine Wertung vornimmt sondern die Situation sehr genau als Paradox beschreibt. Die Positionen knallen aufeinander. Und es gibt einen Mechanismus bei ihm – stärker als in den bürgerlichen Stücken – der eher mit dem Globus und dem Kosmos zu tun hat, der sich eben trotzdem weiterdreht. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht aufhalten. Trotzdem ist es nicht vorherbestimmt. Der Himmel ist in „König Lear“ leergefegt, er wird sogar in ein vorchristliches Phantasieland verlegt, wo man eher von Geistern und von Göttern spricht.
Beckett von Shakespeare inspiriert
„König Lear“ gilt als Shakespeares dunkelstes Stück. Die meisten Figuren sterben. In zeitgenössischen Inszenierungen wird immer die Parallele zu Beckett gezogen. Sehen Sie die auch?
In Becketts Stücken tauchen lauter Motive auf, die von Shakespeare kommen – der Verrückte führt den Blinden, spielt aber nur verrückt, da ist man relativ schnell bei Ham und Clov aus dem „Endspiel“ oder Pozzo und Lucky aus „Godot“, wo der, der die Macht hat, immer schlechter laufen kann, und den anderen, eine verstummte Kreatur, an der Leine herumzieht. Diese Herr-Knecht-Geschichten, aber auch die verfallenden Körper, das schrittweise Erblinden, das Fehlen jeder Erlösung, die Absurdität hat Beckett ganz stark bei Shakespeare gelernt.
Der Wahnsinn ist sehr doppeldeutig in dem Stück. Aus Schmerz über den Tod der verstoßenen, jüngsten Tochter Cordelia wird Lear wahnsinnig, gleichzeitig verleiht ihm der Wahn hellsichtige Momente. Inwiefern?
In diesem Stück braucht es den Schmerz, um einen Hauch von Erkenntnis oder so etwas wie Erlösung zu erfahren. Erst der erblindete, gefolterte Gloucester versteht Dinge über das Leben und die Welt und das kaputte System und erkennt kurz bevor er stirbt seinen Sohn Edgar. Genauso erlebt Lear mit der vermutlich toten Cordelia in seinen Armen einen Moment von Liebe, den er zu Beginn eingefordert hat. Das ist sehr nihilistisch. Das Bewusstsein der eigenen Absurdität im Schmerz, es wäre schön, wenn wir diesen Moment auf der Bühne erwischen würden.
Jan Bosse ist voller Lob über Thomas Koch
Die Beziehungen in diesem Stück werden alle extrem auf die Probe gestellt, ob Vater und Tochter, Herrscher und Untertan...
Es gibt einen Riss, der sich in den ersten Szenen auftut, der offenbar schon vorher da war. Man fragt sich, warum kippen die beiden Väter, Lear und Gloucester, so schnell durch trotziges Verhalten beziehungsweise eine simple Intrige um. Es ist eine paranoide Welt. Ich finde es toll, so einen virilen Lear zu haben wie Wolfram Koch. Der ist erst 60 und gibt die Macht ab, weil er vielleicht noch etwas Besseres vorhat. Die jungen sind bei uns 30 Jahre jünger und eine Generation, die auch das Selbstbewusstsein hat, den Laden zu übernehmen. Aber die Nachfolge wird zu sehr im Unklaren gehalten. Der Chef kann nicht loslassen.
Gibt es eine Utopie? Denn was kommt eigentlich nach dem Herrschersturz?
Es gibt in dieser Heidegesellschaft von aus der Gesellschaft herausgerissenen Vertriebenen, Verbannten, Geflüchteten und Verkleideten ein utopisches Potenzial, ohne dass in dem Stück daraus eine neue Gesellschaft entsteht. Da gibt es unheimlich schöne Dialoge, die ganz befreit sind von der Last, dass es nur um Karriere und Macht und Geld geht.
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Sie haben mit Wolfram Koch, der den Lear spielt, am Deutschen Theater bereits den „Sturm“ inszeniert und zuvor „Richard III.“ am Schauspiel Frankfurt. Warum arbeiten Sie gerne mit ihm?
Man kennt den anderen ganz schön gut. Und weiß gegenseitig, was der andere kann und auch was er nicht kann. Auch inszenatorisch mischt er sich die ganze Zeit ein und hat gute Ideen. Die kommen ja nicht nur von mir. Er wird nicht als Stargast eingeflogen, sondern ist ein Ensembletier. Ich arbeite immer extrem aus der Gruppe heraus. Wolfram ist da als Kollege ein echtes Zugpferd und eine Fantasiemaschine.
Jan Bosse gesteht über 30 Verrisse eingesteckt zu haben
Sie kennen sich seit der Helmut Krausser-Inszenierung „Haltestelle Geister“, die 2000 anlässlich der Eröffnung der Stromberg-Direktion am Schauspielhaus spektakulär floppte. Schweißt das für die Zukunft zusammen?
Mein größter Erfolg (lacht). Es lief glaube ich zwölf Mal und hatte 30 Verrisse. Entweder trennt so etwas oder es schweißt zusammen. Wir haben einander entdeckt und dann macht man weiter und es kommt etwas Besseres dabei heraus. Meistens entsteht nach einer Krise wie in einer guten Beziehung das nächste Level.
Apropos Generationenwechsel: Auch an den Theatern ändern sich die Machtstrukturen gerade und eine junge Generation strebt ein anderes Arbeiten an. Wie sehen Sie das?
Ich finde Erneuerungen super. Ich war damals am Schauspielhaus der Konventionellste, habe mich aber bewusst dafür entschieden, Geschichten zu erzählen in einem Kontext, der damals schon eher performativ und multimedial war. Ich wollte nicht der pseudo-junge Wilde sein. Ich stehe lieber für die Inszenierung, die total modern ist, aber Schauspieltheater bietet. Die Begegnung zwischen Jung und Alt ist in fast keinem anderen Medium so möglich. Das gilt natürlich auch für das Publikum.
„König Lear“ Premiere 2.4., 19 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de