„Wir hätten uns alles gesagt“ von Judith Herrmann bewegt sich gelassen zum Entsetzlichen und darüber hinaus
Da ist er also wieder, dieser melancholische, schwebende Ton Judith Hermanns, schon im Titel: „Wir hätten uns alles gesagt“. Als riefe jemand, ein Gespenst vielleicht, aus dem Berliner Gemäuer aus „Sommerhaus, später“ von 1998 in der Gegenwart an. Es ist eher ein Hauch als ein Statement, und es provoziert Fragen. Was ungefähr hätten wir uns denn gesagt? Warum taten wir es nicht? Was hat uns daran gehindert? Und wer ist das überhaupt: „Wir“?
Es ist ein Trick. Nicht darauf hereinfallen. Geschickt macht der Titel von Hermanns neuem Buch ganz auf „Frauenliteratur“, eine Rubrik, in der von weiblichen Menschen verfasste Bücher bis heute landen, egal ob sie von Astrophysik oder Kannibalismus handeln. Frauen, das hat mal jemand erforscht, verwenden häufiger den Konjunktiv als Männer. Eigentliches und Konkretes werden angedeutet oder, wie man es der Berliner Schriftstellerin gelegentlich vorwarf, kunstvoll mit dem Schleier des Bedeutungsvollen behängt, wobei das Gesagte im Kern vielleicht ein bisschen banal ist.
Hermanns neuer Roman überzeugt wieder mit Klarheit
Schluss damit. In aller Ruhe. Schon ihr 2021 erschienener, höchst erfolgreicher Roman „Daheim“ über eine Frau, die aus der Stadt ans Meer zieht, war von einer Klarheit und Dichte, als hätte sich hier eine literarische Stimme endgültig von allen Erwartungen aus dem letzten Jahrhundert – Stichwort „Fräuleinwunder“ – befreit. „Wir hätten uns alles gesagt“, Hermanns neues Buch, beruht auf der Poetikdozentur, die sie 2022 in Frankfurt hielt, Untertitel: „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“. Das Buch hat nun weder Untertitel noch eine Genrebezeichnung. Ist es ein Roman? Eine Autobiografie? Autofiktion? Poetikvorlesung? Teufelsaustreibung? Therapeutische Sitzung? Zaubertricksammlung? Liebevoll arrangiertes Horrorkabinett? Es ist alles davon.
In der knappen Einleitung schreibt Hermann, die „ehrenvolle Aufforderung“ zur Dozentur sei für sie „kein Verhör, obwohl ich sie in gewisser Weise als eins empfinde: Ich verhöre mich selbst“. Wo ein Verhör ist, muss auch ein schrecklicher Verdacht sein, eine ungeklärte Tat, ein Verbrechen.
Eine furchtbare Kindheit wird thematisiert
Die Geschichte – auf jeden Fall ist es eine – beginnt wie ein Echo ihres Debüts „Sommerhaus, später“ damit, dass die Erzählerin zu vorgerückter Stunde in einem Berliner Späti ihrem ehemaligen Psychoanalytiker begegnet. Lakonisch lässt sie diese so vertraute wie befremdliche Begegnung zu einer Art Wurmloch werden, in dem alles aufs Tapet kommt, was bisher unter Verschluss lag, sogar in zehn Jahren Psychoanalyse: Der saufende Großvater, unter dessen Billardtisch die Erzählerin sich die Ohren zuhielt, bis sie endlich wieder nach Hause durfte.
Das Zuhause, in dem ihr depressiver Vater und ihre meist abwesende Mutter in einem Chaos aus marodem Mobiliar und Papierstapeln ein wortkarges Dasein fristeten. Ein Kasperletheater und ein Puppenhaus baut der Vater ihr, Bühnen grausiger Geschehnisse. Später besucht die erwachsene Tochter ihren Vater in der Psychiatrie: „Es gab Gedichte, über die er in Tränen ausbrach, was nicht zwangsläufig an den Aufenthalt in einer Irrenanstalt gebunden ist, jeder Mensch kann und sollte mindestens einmal im Leben über einem Gedicht in Tränen ausgebrochen sein“.
Hermann lässt offen, ob es in ihrem Leben „so war“ oder nicht
Was die Erzählerin hier so distanziert und ohne jeden Anflug von Pathos oder Wehleidigkeit auspackt, im Gegenteil in aller judithhermannhaften, exquisiten Schnörkellosigkeit hinstellt, ist ein Horror im Konjunktiv, einer, dessen Nichterzählbarkeit sie erzählt. Hermann lässt offen, ob es „so war“ oder nicht. Daraus zieht sie ihre Poetologie des Verschweigens: „Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heißt auslöschen“. Das ist ihr Schutzraum. „So könnte ich es sehen.“ Wieder im Konjunktiv.
Nüchtern und machtvoll verortet Hermann Biografisches und das, was über ihre Bücher geschrieben wurde, in ihrem eigenen Setzkasten der Erinnerungen. Sie erwähnt eine Rezension zu ihrem Roman „Aller Liebe Anfang“. Darin hatte es geheißen, sie hätte zwei Probleme, sie könne nicht schreiben, und sie hätte nichts zu erzählen. Statt einer gepfefferten Replik kommt Zustimmung: „Ersteres beiseitegelassen, enthält die zweite Anmerkung eine eigenartige Wahrheit. Ich habe nichts zu erzählen, weil ich das, was ich eigentlich zu erzählen habe, nicht erzählen kann.“ Die Erzählung lenke den Leser vom Eigentlichen ab, „sie lenkt ihn von mir ab“.
Hermann schweigt über ihr Privatleben
Über ihr Privatleben hat die 1970 geborene Neuköllnerin nie viel preisgegeben, das passte zu ihrer geheimnisvollen Aura und ihrem, wie es über die „fotogene Jungautorin“ nach ihrem Debüt hieß, „feinen Gesicht“ mit den immer etwas verhangenen Lidern. Ihr neues Buch ist die ruhig vorgebrachte Geste einer Selbstermächtigung.
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Herber sieht sie heute aus, „alt“ sei sie geworden, schreibt sie, ohne Bedauern. Mit Gelassenheit und einer Kraft, die schaudern macht, knüpft Hermann die Fäden ihres Lebens noch einmal neu. Als Schreibende, als gewesenes Kind, als Klientin eines Psychoanalytikers, als Liebende, Freundin, Mutter. Nicht zuletzt als Berlinerin, die es hinauszog, aber nicht in die Welt, sondern in die Einsamkeit.
Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt“, Verlag S. Fischer, 192 Seiten, 23 Euro