Hamburg. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kulturredaktion lassen das Jahr Revue passieren. Was hat uns begeistert, was geärgert, was überrascht?
Viel toller ist ja...der eigentlich beste Auftritt war aber...unbedingt lesen muss man doch...! Wir geben es zu: Wir freuen uns an dieser Stelle über Widerspruch, Ergänzungen, kleine, spitze Überraschungskiekser. Und natürlich mindestens so sehr über das zustimmende Nicken. Oder sollte da draußen tatsächlich jemand nicht einverstanden sein mit Dörte Hansens sturmumtostem Inselroman „Zur See“? Na, eben. Radikal subjektiv, keine Frage, das sind unsere Kulturknaller des Jahres 2022. Das beste, das schönste, das gelungenste Buch, Konzert, Premierenerlebnis. Das eine zu nennen, heißt zwangsläufig, etwas anderes wegzulassen, gerecht geht es dabei nicht immer zu.
So viel gibt es im Laufe eines Jahres (also, genau genommen: zweier halber Spielzeiten) zu schauen, zu lesen, zu hören, zu fühlen. Und immer noch und immer wieder ist darunter auch für uns, die wir fast jeden Abend in einer Vorstellung oder einem Konzert sitzen oder stehen, Unerwartetes, Unvermutetes, Überwältigendes. Ja, bisweilen auch Ärgerliches.
Noch vor einem Jahr haben wir gebangt, wie es mit der Live-Kultur weiter gehen mag, die Pandemie war dabei unsere Hauptsorge. Der 24. Februar hat auch in der Kultur viel verändert. Zahlreiche Solidaritätsveranstaltungen (mit der Ukraine, zuletzt auch mit den Protesten im Iran) prägten das Bild, im Ballett tanzte eine geflohene russische Primaballerina, in der Elbphilharmonie sang eine andere Russin erst nicht, dann doch. Welcher Eindruck bleibt? Werden wir 2022 vermissen?
Maike Schiller, Kultur-Ressortleiterin
Die Inszenierungen des Jahres
Kirill Serebrennikov: „Der schwarze Mönch“ am Thalia Theater
Martin Kušej: „Maria Stuart“, Gastspiel des Burgtheaters beim Hamburger Theaterfestival auf Kampnagel
Jette Steckel: „Das mangelnde Licht“ am Thalia Theater
Karin Henkel: „Macbeth“ am Deutschen Schauspielhaus
Annalisa Engheben: „Das Ereignis“ am Deutschen Schauspielhaus
Die Bücher des Jahres
Nino Haratischwili: „Das mangelnde Licht“ (FVA)
Yasmina Reza: „Serge“ (Hanser)
Fatma Aydemir: „Dschinns“ (Hanser)
Dörte Hansen: „Zur See“ (Penguin)
Sigrid Behrens: „Gute Menschen (Minimal Trash Art)
Die Kinofilme des Jahres
„She said“, Maria Schrader
„Triangle of Sadness“, Ruben Östlund
„Die stillen Trabanten“, Thomas Stuber
„Wir sind dann wohl die Angehörigen“, Hans-Christian Schmid
Die Überraschung des Jahres
Wie sehr mich die Begegnung mit Bob Wilson (81) gerührt hat. Seine Inszenierung „H – 100 seconds to midnight“ war nicht mein Favorit, das womöglich letzte Treffen mit dieser Theater-Legende umso mehr. Bei unserem Interview trug er – natürlich – schwarz. Und keine Socken.
Das Ärgernis des Jahres
Leute, die zum gepflegten Abhusten eine Theaterkarte benötigen.
Das Kulturereignis des Jahres
Der zutiefst verstörende Krieg in der Ukraine prägte den Diskurs auf so vielen Ebenen – manche Spielpläne erwiesen sich als beeindruckend hellsichtig: Die Thalia-Komplizenschaft mit dem Regisseur Kirill Serebrennikov existierte ebenso wie mit der in Georgien geborenen Autorin Nino Haratischwili lange vor Kriegsbeginn, im besten Sinne aufklärerisch wirkte auch die belarussische Perspektive im Schauspielhaus mit Viktor Martinowitschs „Revolution“. Ein Raum für Auseinandersetzung, Trost (nicht zuletzt durch Gemeinschaft) und immer wieder Solidarität – auch das war die Hamburger Kultur im Jahr 2022.
Holger True, stellvertr. Kultur-Ressortleiter
Die Konzerte des Jahres
Tool, Barclays Arena
Branford Marsalis, Laeiszhalle
Sons Of Kemet, Elbphilharmonie
Goat, Knust
Patti Smith, Stadtpark
Ravi Coltrane, Elbphilharmonie
Die Alben des Jahres
Keith Jarrett: „Bordeaux Concert“
John Coltrane: „Blue Train - The Complete Masters“
Oded Tzur: „Isabella“
Frank Zappa: „Waka/Wazoo“
Dezron Douglas: „Atalaya“
Die TV-Serien des Jahres
„Teheran“ (Apple TV+)
„Mosquito Coast“ (Apple TV+)
„Trying“ (Apple TV+)
„Die Discounter“ (Amazon)
„Slow Horses“ (Apple TV+)
Die Überraschung des Jahres
Alle großen Musikfestivals finden im Sommer tatsächlich statt, die ausgehungerten Massen strömen auf Zeltplätze und vor Open-Air-Bühnen – substanzielle Coronaausbrüche werden nicht gemeldet.
Das Ärgernis des Jahres
Ticketmaster bietet Bruce-Springsteen-Karten für 500 Euro an. „Dynamische Preise“ seien das, die sich an der (enormen) Nachfrage orientieren. Ein Schlag ins Gesicht für alle Fans, die sich diese Mondpreise nicht leisten können. Noch schlimmer allerdings, dass die Stars (Springsteen ist da nicht der einzige) das mitmachen oder sogar befördern.
Das Kulturereignis des Jahres
Das viertägige Reflektor-Festival in der Elbphilharmonie mit und zu Ehren von Komponist und Saxofonist John Zorn ist ein Spektakel, das weit über Deutschland hinaus strahlt. Fans reisen aus ganz Europa an, Dauerkarten sind binnen Minuten ausverkauft. Zorn selbst präsentiert seinen enormen Schaffenskosmos vom Streichquartett über Jazz bis zu Rock und Folk. Es braucht Wochen, um all die Eindrücke zu verarbeiten. Könnte es doch nur jedes Jahr ein John-Zorn-Festival in Hamburg geben...
Vera Fengler, Kulturredakteurin
Die Ausstellungen des Jahres
„Female View“, Kunsthalle St. Annen, Lübeck
„Van Gogh Alive“, United Scene
Annika Kahrs: „How to live in the echo of other places“, Schuppen 29
Robin Hinsch: „Kowitsch“, Galerie Melike Bilir
„In the heart of another country“, Halle für aktuelle Kunst
Die Kinofilme des Jahres
„Corsage“, Marie Kreutzer
„AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe“, Nicolette Krebitz
„Das Leben ein Tanz“, Cédric Klapisch
„Die Zeit, die wir teilen“, Laurent Larivière
„Tausend Zeilen“, Michael Herbig
Die TV-Serien des Jahres
„The Split – Beziehungsstatus ungeklärt“ (BBC/NDR)
„Borgen. Power and Glory“ (Arte)
„State of the Union“ (ARD)
„Neuland“ (ZDF)
„And Just Like That“ (Sky/Vox)
Die Überraschung des Jahres
Die Triennale der Photographie, die von Juni bis September die Museen und Galerien der Stadt bespielte, dabei Bewährtes auf den Kopf stellte und in gleich drei Ausstellungen den (fast vergessenen) Hamburger Herbert List entdecken ließ.
Das Ärgernis des Jahres
Der massive Drohnenangriff auf die spektakuläre Lichtinstallation „Breaking Waves“ des niederländischen Künstlerduos Drift an der Elbphilharmonie am 29. April. Die 800.000 Euro teure Show wurde abgebrochen, die zweite abgesagt.
Das Kulturereignis des Jahres
18. Mai, der erste warme Abend des Jahres: St. Pauli war so wie es sein soll: flirrend. Die Begleitung: charmant. Der Gin Tonic: perfekt. Das Konzert, das diesen Abend unvergesslich machte: eine intensive Begegnung mit dem Ausnahmekünstler Tom Schilling. Dieser hatte mit Die andere Seite und „Epithymia“ noch düsterere Songs als zu Jazzkids-Zeiten angekündigt. Was nur wenige Gäste in den Gruenspan zog. Es sei wohl „keine Zeit für traurige Lieder“, so Schilling. Au contraire: Nie war seine Musik so melancholisch-melodiös und zu Herzen gehend.
Thomas Andre, Kulturredakteur
Die Konzerte des Jahres
The War on Drugs, Stadtpark
Pet Shop Boys, Barclays Arena
Damon Albarn, Elbphilharmonie
Jochen Distelmeyer, Kampnagel
Casper, Sporthalle
Die Lesungen des Jahres
Anke Engelke und Carolin Emcke, Laeiszhalle
Dörte Hansen, Magazin-Kino
Benedict Wells und Thees Uhlmann, Elbphilharmonie
Yasmina Reza, St. Pauli Theater
Rumena Bužarovska und Yael Inokai, Literaturhaus
Die TV-Serien des Jahres
„Better Call Saul“ (Netflix)
„Winning Time: Aufstieg der Lakers-Dynastie“ (Sky)
„We Own This City“ (Sky)
„Top Boy“ (Netflix)
„Souls“ (Sky)
Die Überraschung des Jahres
Auf einmal gleich zwei Romane von Cormac McCarthy, 16 Jahre nach „Die Straße“. Leider zu mathematisch. Und mit Nervzwerg.
Das Ärgernis des Jahres
Bei allem Verständnis: Zu viele Plätze blieben leer. Geht wieder mehr in Konzerte und auf Lesungen!
Das Kulturereignis des Jahres
Der Feind des Rausgehens sind Streamingdienste, jaja, schon klar. Wir hatten viel Kulturfeuer, um das wir uns versammeln konnten. In Clubs, Theatern, Buchhandlungen. Dennoch, für mich persönlich, ist Kate Bushs „Running Up That Hill“ der Kultur-Hit des Jahres. Beziehungsweise die Wiederentdeckung dieser 80er-Pop-Großtat. Beim intimen, weil nicht-öffentlichen Erleben einer Serie, die weltweit Abermillionen sahen. Die Heldin Max, die das Monster nicht in sich reinlässt, indem sie „Running Up That Hill“ als Abwehr installiert. Was für ein Symbol für die Kraft der Musik – Apropos, auch U2s Auftritt in der Kiewer U-Bahn war stark! Zurück zu Kate: Alle hörten jetzt diesen Klassiker. Kenner wussten schon immer, dass er ähnliches Kaliber hat wie, sagen wir, Fleetwood Macs „Dreams“. 2022 erinnerte uns nachdrücklich daran, wie geil Soundtracks sind.
Stefan Reckziegel, Kulturredakteur
Die Inszenierungen des Jahres
Ayla Yeginer: „Kleiner Mann – was nun?“, Ohnsorg--Studio
Anatol Preissler: „Onkel Wanja“, Ernst Deutsch Theater
Georg Münzel: „Alle Toten fliegen hoch – Amerika“, Altonaer Theater
Murat Yeginer: „Dat Frollein Wunner“, Ohnsorg-Theater
Felix Löwy: „Footloose“, First Stage Theater
Die Kleinkunstabende des Jahres
Florian Schroeder: „Schluss jetzt!“, Lustspielhaus
Lisa Politt/Gunter Schmidt:„65 – Das Alter ist sicher!!!“, Polittbüro
LaLeLu: „Alles richtig gemahct“ (sic!!), Lustspielhaus
Die Bücher des Jahres
Ferdinand von Schirach: „Nachmittage“ (Luchterhand)
Theresia Enzensberger: „Auf See“ (Hanser)
Dörte Hansen: „Zur See“ (Penguin)
Die Überraschung des Jahres
Die Neuverankerung des Theaterschiffs Hamburg im Nikolaifleet nach teuren und langen Renovierungsarbeiten sowie Corona-Beschränkungen mit gleich vier Hauspremieren von August bis Dezember. Alle see- und publikumstauglich!
Das Ärgernis des Jahres
Lucia Bihlers Neu-Inszenierung von Büchners „Woyzeck“ am Schauspielhaus – grell, billig und überflüssig. Sowie sportkulturpolitisch FC-St.-Pauli Sportchef Bornemann und diejenigen Vereinsverantwortlichen, die diesem überschätzen „Weißkopfadler“ Glauben schenken.
Kulturereignis des Jahres
Putins Angriffskrieg auf die Ukraine war wenige Wochen alt, als im Anfang April 500 (maskierte) Menschen ins St. Pauli Theater kamen. Kabarettist und Bundesverdienstkreuzträger Alfons alias Emmanuel Peterfalvi hatte mit Uli Waller kurzfristig ein Benefiz für Kinder in der Ukraine organisiert. Nach dreieinhalb denkwürdigen Stunden mit Musik, Lesung, Artistik und Satire sowie rund 30 Beteiligten, darunter drei ukrainische Akrobatinnen, kamen 35.000 Euro zusammen. Und Lindenberg sang wie 1981 mit Pascal Kravetz „Wozu sind Kriege da?“
Falk Schreiber, Kulturautor
Die Inszenierungen des Jahres
Annalisa Engheben: „Das Ereignis“ am Deutschen Schauspielhaus
Thordis M. Meyer: „Achterbahn“, Lichthof Theater
Kelly Cooper, Pavol Liška: „Nature Theatre Of Oklahoma: Burt Turrido. An Opera“, Kampnagel
Christopher Rüping: „Brüste und Eier“, Thalia Theater
Ursina Tossi: „Swan Fate“, Kampnagel
Die Ausstellungen des Jahres
Michel Majerus, Hamburger Kunstverein
Cordula Ditz, Kunstverein Harburger Bahnhof
Dieter Roth, Sammlung Falckenberg
„Currency: Photography Beyond Capture“, Deichtorhallen
„Atmen“, Hamburger Kunsthalle
Die Konzerte des Jahres
Hercules & Love Affair, Kampnagel
Marteria, Platz am Volksparkstadion
The Cure, Barclays Arena
Soap&Skin, Kampnagel
Little Simz, Uebel & Gefährlich
Die Überraschung des Jahres
Karin Beier bleibt Intendantin am Schauspielhaus und geht nicht in gleicher Funktion ans Burgtheater nach Wien.
Das Ärgernis des Jahres
Wie unprofessionell die Kasseler documenta mit dem Vorwurf des Antisemitismus umging. Wie (auch in Hamburg) Vertreter von Politik und Medien, die mit Kunst noch nie etwas am Hut hatten, Kulturszene, Postkolonialismus und Strukturalismus als grundsätzlich antisemitisch schmähten. Wie im Zuge dieser Cancel Culture von rechts „Vögel“ vom libanesischstämmigen Autor Wajdi Mouawad am Münchner Metropoltheater als angeblich antisemitisch abgesetzt wurde, ein Stück, dessen Inszenierung in Genf unter anderem vom israelischen Staat gefordert wurde. Und das in Hamburg am Thalia in der Gaußstraße zu sehen ist. Noch.
Das Kulturereignis des Jahres
Tatsächlich hat es die Stadt geschafft, mit Demis Volpi endlich einen Nachfolger für den seit 50 Jahren amtierenden John Neumeier zu bestimmen.
Tino Lange, Kulturredakteur
Die Konzerte des Jahres
Blu DeTiger, Reeperbahn Festival
Kraak & Smaak, Baltic Soul Weekender
Roosevelt, Gruenspan
Alanis Morissette, Barclays Arena
Danko Jones, Markthalle
Die Alben des Jahres
Nathan Johnston & The Angels Of Libra: „Nathan Johnston & The Angels Of Libra“
„Ghost: „Impera“
Billy Talent: „Crisis Of Faith“
Vieux Farka Touré & Khruangbin: „Ali“
Dope Lemon: „Rose Pink Cadillac“
Die Serien des Jahres
„Star Wars: Andor“ (Disney+)
„Absolutes Fiasko: Woodstock ‘99“ (Netflix)
„Pam & Tommy“ (Disney+)
„Kleo“ (Netflix)
„Die Kaiserin“ (Netflix)
Die Überraschung des Jahres
Dass die No Angels sich zum 20. Bandjubiläum wieder vereinten und auf Tour gingen, war vielleicht erwartbar. Dass die – leider schlecht besuchten – Shows aber so unterhaltsam werden würden, eher nicht. Tolle Band, tolle Stimmen, tolle Stimmung.
Das Ärgernis des Jahres
2022 war das Jahr der Big-Budget-Serien-Desaster, allen voran „Rings Of Power“ und „Star Wars: Obi Wan Kenobi“. Das goldene Stück Sch … geht aber an die zweite Staffel „Barbaren“, in der die Römer von einer Horde Germanen in Bikertreffen-Kostümen noch lächerlicher aufs Maul bekommen als in „Asterix“-Comics.
Das Kulturereignis des Jahres
Das „Reeperbahn Festival“ hatte im September zwei schlimme Jahre hinter sich, nachdem es 2020 und 2021 durch pandemiebedingte Einschränkungen und Organisationsfehler einige Federn lassen musste. Dieses Jahr hingegen konnte das Festival endlich wieder unter Volllast fahren – und machte das Beste daraus. Das Programm mit 400 Auftritten von Bands aus 38 Nationen präsentierte fantastische Bands, Musikerinnen und Musiker, der Ablauf war gut organisiert und auch der Fan-Zuspruch war mit 41.000 Besucherinnen und Besuchern höher als erwartet. Fein.
Joachim Mischke, Kultur-Chefreporter
Die Konzerte des Jahres
Igor Levit und Sir Antonio Pappano mit dem Busoni-Klavierkonzert, Elbphilharmonie
Rihms „Jakob Lenz“ mit Georg Nigl, Salzburger Festspiele
Der Sibelius-Zyklus mit Klaus Mäkelä und dem Oslo Philharmonic, Elbphilharmonie
Puccinis „Il Trittico“ mit Asmik Grigorian, Salzburger Festspiele
Pekka Kuusisto und das Violinkonzert von Bryce Dessner, Elbphilharmonie
Die Serien des Jahres
„Stranger Things“ (Netflix)
„The Bear“ (Disney+)
„Severance“ (Apple TV+)
„In With The Devil“ (Apple TV+)
„Schnelles Geld“ (Netflix)
Die Kinofilme des Jahres
„Die stillen Trabanten“, Th. Stuber
„Everything Everywhere All At Once“, Dan Kwan, Daniel Scheinert
„Nope“, Jordan Peele
„Blond“, Andrew Dominik
„Top Gun: Maverick“, Joseph Kosinski
Die Überraschung des Jahres
Dass zwei Mitglieder des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa nach den „documenta“-Skandalen ihren Lehrauftrag an der HFBK in Hamburg tatsächlich antreten durften. Und tatsächlich antraten.
Das Ärgernis des Jahres
Valentin Schwarz’ überladenes, unsortiertes Regie-Debüt-Chaos beim neuen „Ring“ der Bayreuther Festspiele. Es fing eigenartig an und ging dann ziemlich steil bergab.
Das Kulturereignis des Jahres
Die stellenweise überhitzte Debatte um den Ukraine-Krieg und den Frieden in der klassischen Musik-Branche, bezogen auf mal mehr, mal weniger „umstrittene“ Stars, Ensembles, Festspiele und Komponisten. Und ebenso eng verbunden mit dem Nachdenken über Haltungen und Moral, Doppel-Moral und Toleranz. Diese Kunstform hat politische Untertöne, der genaue und gerechte Umgang damit ist nun mal schwierig. Neben der stockenden Rückkehr des Publikums die zweite Grundsatz-Thematik, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Aber dringend Lösungen braucht.
Annette Stiekele, Kulturautorin
Die Inszenierungen des Jahres
Kirill Serebrennikov: „Der schwarze Mönch“ am Thalia Theater
Karin Henkel: „Macbeth“ am Deutschen Schauspielhaus
Toshiki Okada: „Doughnuts“ am Thalia in der Gaußstraße
Thorsten Lensing: „Verrückt nach Trost“ auf Kampnagel
Ursina Tossi: „Swan Fate“ auf Kampnagel
Die Ausstellungen des Jahres
„Currency: Photography Beyond Capture“, Halle für aktuelle Kunst/ Deichtorhallen Hamburg
„Michel Majerus“, Kunstverein in Hamburg
„Atmen“, Hamburger Kunsthalle
„Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980-1999“, Museum für Hamburgische Geschichte
„Günter Haese“, Ernst Barlach Haus
Die Kinofilme des Jahres
„Spencer“, Pablo Larraín
„Memoria“, Apichatpong Weerasethakul
„She said“, Maria Schrader
„Die Frau im Nebel“, Park Chan-wook
„Triangle of Sadness“ , Ruben Östlund
Die Überraschung des Jahres
Dass es am Ende doch möglich war, für die ein halbes Jahrhundert währende Intendanz John Neumeiers beim Hamburg Ballett John Neumeier mit Demis Volpi einen Nachfolger zu finden.
Das Ärgernis des Jahres
Das Kommunikationsdesaster rund um den Antisemitismus-Skandal bei der „documenta 15“.
Das Kulturereignis des Jahres
Der Krieg in der Ukraine dominiert auch das Kulturgeschehen. Und die Kultur setzte wichtige Zeichen der Hoffnung: Mit tollen Ballett-Abenden, entstanden aus einer Kooperation von Tänzerinnen und Tänzern des Ukrainischen Nationalballetts und dem Ensemble des Hamburg Balletts auf Kampnagel. Außerdem gab es kurzfristig von der Kulturbehörde und unter dem Dach der Hamburgischen Kulturstiftung aufgelegte Stipendien für ukrainische Kunstschaffende. Nicht nur Zeichen der Hoffnung, sondern auch der Solidarität – sie ergaben für mich das wahre Kulturereignis des Jahres.
Volker Behrens, Kulturredakteur
Die Bücher des Jahres
Bernardine Evaristo: „Manifesto – Warum ich niemals aufgebe“ (Tropen)
Ian McEwan: „Lektionen“ (Diogenes)
Martin Amis: „Inside Story“ (Kein & Aber)
Bram Stoker: „Dracula. Schmuckausgabe (Coppenrath)
Suzanne & Max Lang: „Jim ist mies drauf“ (Loewe)
Die Kinofilme des Jahres
„Triangle of Sadness“, Ruben Östlund
„Meinen Hass bekommt ihr nicht“, Kilian Riedhof
„She Said“, Maria Schrader
„Mittagsstunde“, Lars Jessen
„Die stillen Trabanten“, Thomas Stuber
Die Serien des Jahres
„Die Discounter“ (Amazon)
„Retoure“ (ARD)
„Treason“ (Netflix)
„Coach Prime“ (Amazon)
„Borgen“ (Netflix)
Das Ärgernis des Jahres
„Bibi & Tina – Einfach anders“ (Regie: Detlev Buck). Nun ist aber auch mal gut mit diesen Opern! Auch Pferdemädchen kann man mal überfüttern.
Die Überraschung des Jahres
Der unerwartete Auftritt vom österreichischen Regisseur Ulrich Seidl beim Filmfest Hamburg, wo er trotz vorausgegangener Kritik am Umgang mit seinen jugendlichen Darstellern seinen Film „Sparta“ präsentierte – und eigentlich der designierte Douglas-Sirk-Preisträger war.
Das Kulturereignis des Jahres
Max Beckmanns „Selbstbildnis gelb-rosa“ aus dem Jahr 1943 erzielte bei einer Auktion den astronomischen Preis von 20 Millionen Euro. Damit ist es das teuerste, jemals in Deutschland versteigerte Kunstwerk. Das Auktionshaus Grisebach hatte es zuvor sogar auf 23 Millionen Euro geschätzt. Bilder werden immer mehr zu Aktien an der Wand.
Heinrich Oehmsen, Kulturautor
Die Konzerte des Jahres
Kendrick Lamar, Barclays Arena
Liraz, Knust
Sons Of Kemet, Elbphilharmonie
Ingolf Burkhardt/Florian Weber/Wu Wei, Laeiszhalle
Jason Moran, Elbphilharmonie
Die Alben des Jahres
Björk: „Fossora“
Black Midi: „Hellfire“
Elvis Costello & The Imposters: „The Boy Named If“
Cecile McLorin Salvant: „Ghost Song“
Little Simz: „No Thank You“
Die Kinofilme des Jahres
„The Card Counter“, Paul Schrader
„Das Ereignis“, Audrey Diwan
„Licorice Pizza“, Paul Thomas Anderson
„Mittagsstunde“, Lars Jessen
„Triangle Of Sadness“, Ruben Östlund
Die Überraschung des Jahres
Das „in margine“-Konzert des Ensemble Resonanz in der Elbphilharmonie. Kurzfristig musste Johannes Fischer als Dirigent und als Solist einspringen. Seine Performance von Xenakis’ „rebonds“ war atemberaubend.
Das Ärgernis des Jahres
Dass ich zur enttäuschenden Premiere von „Woyzeck“ ins Schauspielhaus ging statt zum Konzert des Sun Ra Arkestras in der Elbphilharmonie.
Das Kulturereignis des Jahres
Die Reihe „Herzzentrum“, die das Thalia Theater mit Navid Kermani an ungewöhnlichen Orten spielen lässt, ging in diesem Jahr aufs Wasser. Dieser literarisch-philosophische Abend, bei dem Schauspieler aus den Werken Kermanis wie „Dein Name“ und „Morgen ist da“ lesen, wurde von Regisseurin Jette Steckel auf der Außenalster eingerichtet. In 30 Kanus und Ruderbooten paddelten die Teilnehmer zu den schaukelnden Leseorten. 15 Minuten dauerte jede Lesung, dann ging es zur nächsten Station. Schönheit war das Thema bei diesem „Herzzentrum“. Mit der Außenalster, den sie umgebenden Villen und dem Stadtpanorama im Hintergrund zeigte sich die Hansestadt an diesem strahlenden Sonnentag im Juni als funkelnde Perle. Mehr Schönheit ging nicht.
Verena Fischer-Zernin, Kulturautorin
Die Konzerte des Jahres
„Les Adieux“ mit Patricia Kopatchinskaja und dem Mahler Chamber Orchestra, Laeiszhalle
Junge Deutsche Philharmonie unter Dima Slobodeniouk mit Nicolas Altstaedt (Cello), Elbphilharmonie
Belcea Quartet und Quatuor Ébène spielen Oktett in der Laeiszhalle
Diana Damrau, Jonas Kaufmann und Helmut Deutsch in der Laeiszhalle
Zweimal London Philharmonic Orchestra in der Elbphilharmonie (Leitung: Edward Gardner)
Die Inszenierungen des Jahres
Kirill Serebrennikov: „Der schwarze Mönch“ am Thalia Theater
Falk Richter: „Die Freiheit einer Frau“ nach Édouard Louis, Deutsches Schauspielhaus
Olaf Schmidt vertanzt am Theater Lüneburg „Bluthochzeit“ nach Federico García Lorca
David Bösch: „Don Pasquale“ von Donizetti, Staatsoper
Karin Henkel: „Macbeth“, Deutsches Schauspielhaus
Die Bücher des Jahres
Stephan Abarbanell: „10 Uhr 50,- Grunewald“ (Blessing)
Camille Laurens: „Es ist ein Mädchen“ (dtv)
Claire Keegan: „Kleine Dinge wie diese“ (Steidl)
Mithu Sanyal über Emily Brontë (KiWi)
Adania Shibli: „Eine Nebensache“ (Berenberg)
Die Überraschung des Jahres
Ein Flügel, zwei Tastaturen, ein Klang wie ein Orchester: David Stromberg küsst das vergessene „Duplex Coupler Grand Piano“ wach.
Das Ärgernis des Jahres
Das Tetzlaff Quartett gratuliert in der Laeiszhalle den Kammermusikfreunden zum 100. Jubiläum – der Große Saal ist kaum verkauft. Peinlich.
Das Kulturereignis des Jahres
Sommer, Sonne, Maskenfreiheit: Nach zwei Jahren Pause feiert Elbjazz ein Comeback. Bei Bobby Rausch produzieren Bassklarinette und Saxofon einen Sound zwischen Hafensirene und Gullideckel, Judi Jackson betört mit Stimme und exquisiter Rhythmusgruppe, und Donny MacCaslin geht direkt auf den Solarplexus.