So teuer war bislang noch keine deutsche Produktion: In der historischen Serie verschwinden Schiffe. Rätselhaft? Und ob.

Was das Genre „Mystery“ angeht, ist es wie beim Fernsehkrimi: Leichen sterben nie aus. Mystery ist so erfolgreich, weil Grusel und Thrill nie auserzählt sind. Die weltweit erfolgreichste, amerikanische Serie „Stranger Things“ (das ist die mit den niedlichen Monster-Besiegern, ach, süße Jugend) liegt als Beweisstück Nummer eins nahe. Aber der Mystery-Weltmeister kommt doch aus deutschen Landen. Das Zeitschleifen-in-der-provinziellen-Ödnis-Epos „Dark“ zog bis 2020 drei Jahre lang Netflix-Abonnenten in den Bann und hat unter Fans absoluten Legenden-Status.

Ein unerwarteter Erfolg für die Serien-Schöpfer Baran bo Odar und Jantje Friese, denen mit ihrer Genre-Arbeit eine ziemlich unpeinliche deutsche Netflix-Premiere gelang. Danach konnte es nur bergab gehen. Es ist ja leider so, dass deutsche Leinwandschaffende Fernsehfilme oft ziemlich gut können, Serien aber meistens nicht, man denke an das nachfolgende Netflix-Desaster „Dogs of Berlin“, für das man sich in Grund und Boden schämte. Die gar nicht mehr so neue Streaming-Internationalität sorgt ja für Vergleichsmöglichkeiten.

Auf Sky läuft derzeit „Souls“, eine weitere deutsche Produktion

Derzeit läuft bei Sky die über weite Strecken etwas verschnarchte Mystery-Serie „Souls“, auch sie eine deutsche Produktion. Und auf Netflix ist jetzt „1899“ zu sehen, das nächste Werk Baran bo Odars und Jantje Frieses. Teutonische Schauerromantik ist also die Losung für düstere Herbsttage, diesmal in besonders hoher Dosis verabreicht. Wobei „1899“ im Vergleich zu „Souls“ unterhaltungsmäßig den Wettbewerb klar gewinnt. Opulentere Bilder hat man bei einer deutschen Serie selten gesehen, unter ausdrücklicher Berücksichtigung von „Babylon Berlin“. Knapp 50 Millionen Euro haben die acht Folgen der ersten Staffel „1899“ gekostet – Rekord.

Sieht man das der Serie an? Und wie. Große Teile der Handlung spielen auf einem Schiff, und da „1899“ eine entschieden historische Serie ist, waren nicht nur nautische Requisiten, sondern auch Kostüme gefragt. Sie werden in großer Pracht aufgefahren. Und das die zu einem großen Teil in Babelsberg gedrehte Handlung ozeanische Weite und Überwältigung verströmt, zeugt von teurem virtuellen Handwerkszeug.

„1899“: Funksignale von einem Geisterschiff

„1899“ ist wie „Titanic“ purer See-Horror, aber diesmal muss mehr Drohkulisse als ein Eisberg aufgefahren werden. Ein in London aufgebrochenes, von einer großteils deutschen Besatzung gesteuertes Passagierschiff ändert auf der Überfahrt nach New York seinen Kurs – die „Kerberos“ gabelt unterwegs die „Prometheus“ auf, ein baugleiches, vor Monaten verschwundenes Schiff: Funksignale sind halt schon ein Argument, ursprüngliche Pläne aufzugeben. An Bord der „Prometheus“ stellt der „Kerberos“-Kapitän Eyk Larsen (kennen wir aus „Dark“: Andreas Pietschmann) aber fest, dass aus dem mit mehr als 1000 Passagieren reisenden Frachter ein Geisterschiff geworden ist. Damit ist das Gruselkabinett eröffnet.

Mit der „Prometheus“ im Schlepp fährt Larsen danach weiter, und nimmt damit in Kauf, dass die Lage auf der „Kerberos“ eskaliert. An deren Bord sind mit Beschwernissen und Traumata – der Trinker Larsen selbst trauert um seine bei einem Brand ums Leben gekommene Familie – kämpfende Menschen, die auf Lagerkoller komm raus aneinandergefesselt sind. Unglückliche Upper-Class-Franzosen, verzweifelte Unterschicht-Skandinavier, aufrechte Kohlen-Polen, eine chinesische Hure mitsamt ihrer zynischen englischen Zuhälterin, ein dubioses spanisches Bruderpaar: Wer in die Seelen dieses Personals blickt, schaut in einen Abgrund.

Viele Sprachen und eine Netflix-Formel

Weil sie Flüchtlinge sind auf dem vermeintlichen Weg ins gelobte Amerika, könnte man dem Plot, in dem dramatische Flashbacks, Albträume, verrückt spielende Kompassnadeln die ersten Sendboten des Schrecklichen und Übernatürlichen sind, eine gewisse Aktualität attestieren. Und was die Internationalität dieser nur vom Produktionsteam und -ort her deutschen Serie angeht, kommt die Netflixisierung der TV-Verhältnisse zu einem vorläufigen Ende. Bei derzeit handelsüblichen Streamingserien unterscheiden sich polnische Produktionen nicht allzu sehr von portugiesischen: Narrative Standards und finanzielle Budgets sind dieselben.

Weswegen man gewissermaßen sagen könnte, dass die Vielsprachigkeit an Bord – Tipp: englische „Original“-Tonspur einstellen, dann sprechen die Darsteller in tatsächlich vielen Zungen wie bei den Dreharbeiten – die Netflix-Formel abbildet: Hier ist alles eins, egal, ob man Deutsch oder Dänisch spricht. Und verstehen tun sich die Menschen ja am Ende doch, obwohl sie eigentlich keine andere Sprache als ihre eigene können. Wer auf mysteriöse, paranormale Vorgänge steht wie die retrofuturistische Verschwindibus-Maschine, mit der sinistre Männer ganze Schiffe von der Bildfläche beamen können, wird bei „1899“ so gut auf seine Kosten kommen wie der- oder diejenige, der auf darstellerische Leistungen Wert legt. Das paneuropäische Ensemble, allen voran Andreas Pietschmann als Kapitän und Emily Beecham als englische, alleinreisende Ärztin, überzeugt in jeder Szene.

Bis sich der Nebel lichtet

Offen bleiben muss erst einmal, ob die Figuren in „1899“ (dem Vernehmen nach wird es im besten Fall drei Staffeln geben) auf ähnliche Weise zur Identifikation taugen wie die Helden in „Dark“. Das Rätsel der rational nicht erklärbaren Vorgänge wird aber einmal mehr mit Ambition aufgeführt, cineastischer denn je. Was das alles am Ende zu bedeuten hat? „Wir warten, bis sich der Nebel gelichtet hat“, sagt der Kapitän einmal, als sein Schiff in die große Waber-Wand steuert.