Hamburg. Malerin, Autorin, Poetin, Freiheitskämpferin und Feministin: Adnan war eine vielseitige Künstlerin und ist in ganz Hamburg zu finden.

Es sind, ein wenig jedenfalls, Murmeltiertage. „Wer ist das?“, dürfte derzeit keine allzu selten gestellte Frage beim Blick in den Kulturkalender sein. Etel Adnan, nie gehört, und jetzt gibt es Veranstaltungen im Thalia Theater, beim Harbour Front Festival, und in der Kunsthalle hängt auch was von ihr? Gibt es hier etwa einen kleinen Hamburger Hype?

Kann man so sehen. Jedenfalls wiederholt sich das interessierte Stirnrunzeln. Vor zehn Jahren, im fortgeschrittenen Alter von 87 Jahren, sorgte Etel Adnan als unbekannte Künstlerin auf der Documenta für Furore. Na ja, was heißt Furore: Kasseler Großschau-Ruhm ist manchmal schnell vergänglich und vielleicht auch vor allem lokal dokumentiert.

Etel Adnan erhielt Lichtwark-Preis für ihr Lebenswerk

Als die Kulturbehörde im Juli 2021 bekannt gab, dass die hochkarätig besetzte Jury den Lichtwark-Preis des Hamburger Senats und der Bürgerschaft an Etel Adnan für ihr Lebenswerk verleihen werde, ging in vielen Köpfen wieder das große Rätselraten los: Wer ist diese Frau, und warum kennt man keines ihrer Bilder?

Dass die 96-Jährige bei der anschließenden Preisübergabe am 18. November 2021 in der Hamburger Kunsthalle persönlich anwesend sein würde, war höchst unwahrscheinlich, wusste man um ihren kritischen Gesundheitszustand; seit einer schweren Grippe-Infektion wurde sie von einer Krankenschwester in ihrem Pariser Appartement gepflegt. Und doch bewegte die Nachricht von ihrem Tod – vier Tage vor ihrer Ehrung.

Etel Adna wuchs im Libanon

Etel Adnan wurde 1925 in Beirut geboren und wuchs im damals französisch kontrollierten Libanon auf. Sie studierte Literatur in Beirut, wechselte 1949 nach Paris an die Sorbonne und ging später in die USA. 1972 kehrte sie in den Libanon zurück, musste das Land jedoch 1976 aufgrund des Bürgerkriegs erneut verlassen. Seitdem lebte sie zusammen mit ihrer Partnerin, der Bildhauerin und Gründerin des Post Apollo Press Verlags, Simone Fattal, in Nordkalifornien und Paris.

Ein Dreivierteljahr nach dem Lichtwark-Preis begegnet uns Etel Adnan an vielen Stellen des kulturellen Lebens, als Literatin, Malerin, Poetin, Feministin, Freiheitskämpferin, und ihre Verbindung zu Hamburg ist schon erstaunlich: In der Edition Nautilus, in der die libanesisch-französische Autorin seit Langem verlegt wird, ist ihr letztes Buch „Die Stille verschieben“ gerade erschienen, auf dem Harbour Front Literaturfestival wird es gleich zwei Veranstaltungen geben.

Kunsthalle beherbergt drei Gemälde Etel Adnans

Am 17. September liest die Schauspielerin Corinna Harfouch im Thalia Gaußstraße aus Adans 1980 erschienenem Text „Arabische Apokalypse“, dessen Aktualität hinsichtlich globaler Kriegsschauplätze offensichtlich ist. Einen Tag später lesen Marina Galic, Jens Harzer, Barbara Nüsse, Tim Porath und Pauline Rénevier im Thalia Theater aus „Die Stille verschieben“. Und auch in dem Stück „H – 100 Seconds to Midnight“, mit dem der US-amerikanische Regisseur Robert Wilson am Freitagabend am Thalia Premiere feiert, tauchen ihre poetischen Texte auf; in den Rängen werden Arbeiten auf Papier und Leporellos der Künstlerin gezeigt.

Adnan 2015 in ihrem Pariser Studio.
Adnan 2015 in ihrem Pariser Studio. © Catherine Panchout/Sygma/Getty Images

Die Kunsthalle darf sich durch eine Schenkung glücklich schätzen, drei Gemälde Etel Adnans zu beherbergen. „Untitled (#42a)“ aus dem Jahr 2003, „Untitled (#302)“ von 2018 und „Untitled (#337)“ von 2019 sind aktuell in der Ausstellung „something new, something old, something desired“ zu sehen.

"Malerei drückt für mich Lebensfreude aus"

„Ja, Malerei drückt für mich Lebensfreude aus, mein Schreiben dagegen ist eine Reflexion der tragischen Aspekte der Welt. Aber beides gehört zusammen. Ich glaube, ich schreibe, was ich sehe, und ich male, was ich bin“, hat Adnan einmal über ihr künstlerisches Tun gesagt. Und tatsächlich geht ihre Freude am Leben durch ihre kleinformatigen Landschaftsbilder in scheinbar einfacher Formensprache und zarten Pastelltönen direkt in den Betrachter über, sei es der Mount Tamalpais, der Berg, den Adnan jahrelang von ihrem Haus in Kalifornien aus beobachten konnte, eine Erinnerung an Guatemala oder ihre Heimat, festgehalten in „Ara­bische Apokalypse“ und „L’Express ­Beyrouth-Enfer“, das sie noch 2021 schuf.

Etel Adnans „Le soleil de toujours“.
Etel Adnans „Le soleil de toujours“. © Courtesy the estate of the artist and Sfeir-Semler Gallery Beirut / Hamburg

Es ist vielleicht dasselbe Gefühl, das auch Andrée Sfeir-Semler einst erlebte. 2005 hatte die libanesische Galeristin neben ihrem Hamburger Standort auch einen Ausstellungsraum in Beirut eröffnet. Während eines Mittagessens mit dem Arte-Povera-Künstler Michelangelo Pistoletto am Meer in Beirut lernte sie Etel Adnan kennen. 2007 lud die Künstlerin sie in ihr Atelier ein.

Adnans wurde auf der Documenta ausgestellt

„Ich kannte Etel als Schriftstellerin, aber nicht als Malerin. Sie hatte seit 1959 gemalt und hatte großformatige Tapisserien produziert, war aber durch eine kleine libanesische Galerie vertreten worden, die nur auf lokaler Ebene arbeitete. Deshalb kannte man sie kaum als Malerin. Als ich dann zum ersten Mal ihre Bilder sah, war ich so berührt, dass ich sofort eine Zusammenarbeit vorschlug. Von da an war ich ihre Galeristin.“

Adnans Karriere kam in Fahrt. Hans Ulrich Obrist stellte sie in seiner Serpentine Gallery in London aus, sie war auf der Art Basel vertreten. 2012 wurde sie eingeladen, ihr malerisches Werk in einem eigenen Raum auf der Documenta zu zeigen. Adnans Kommentar: „Ich hatte immer schon davon geträumt, auf den Olymp zu steigen.“ Ihre Arbeiten wurden weltweit in den wichtigsten Museen und Galerien gezeigt. Die Sfeir–Semler Gallery widmete ihr wiederholt Werkschauen, 2013 gab es in den Räumen auf der Fleetinsel eine große Retrospektive der bedeutenden Künstlerin. Noch kurz vor ihrem Tod widmete ihre langjährige Galeristin ihr eine große Ausstellung in Hamburg.

„Etel Adnan war wie die Sonne"

„Etel Adnan war wie die Sonne. Wunderbar, generös. Eine Philosophin und Kämpferin für die Menschenrechte. Jeder verliebte sich in sie. Sie gab jedem Menschen das Gefühl, der Wichtigste in diesem Augenblick zu sein“, so Sfeir-Semler. Bis zuletzt habe die Künstlerin am Morgen gearbeitet und am Nachmittag Gäste empfangen. Über die späte Ehre durch den Lichtwark-Preis habe sie sich sehr gefreut. Am Freitag wird ihre Lebensgefährtin Simone Fattal mit dem Rosa Schapire Preis, einem der bedeutendsten Preise für Gegenwartskünstlerinnen und -künstler, im Thalia Theater ausgezeichnet.

„Die Stille verschieben“ ist übrigens ein freischwebender, origineller Text („Wenn ich die Chance hätte, würde ich lieber einem echten Tiger beim Laufen zusehen, als meine Lieblingsdichter zu lesen“). „Ihre Wahrnehmung der Zustände in der Welt transformierte sie in poetische Prosa, in der sie alltäglichen Dingen ebenso Ausdruck zu verleihen vermochte wie komplexen historischen und politischen Zusammenhängen und Deutungen“, sagt Franziska Otto vom Altonaer Nautilus-Verlag, in dem Adnans Werk seit „Die Sonne zergeht auf der Zunge“ (2004) erscheint. Adnans Schreiben sei, so Otto, bei aller Schärfe der Analyse „geprägt von ihrer Neugier, ihrer Lebenslust, von innerer Freiheit und politischer Weitsicht“. Das Feld ist bereitet für die Entdeckung einer vielseitigen Künstlerin.