Hamburg. Fotos, die wachrütteln: „The New Abnormal“ zeigt, wie Gewalt und Zerstörung das Leben der Menschen in der Ukraine prägen.
„Ich war nicht überrascht von den Ereignissen, aber ich war überrascht, dass sie mein Leben betreffen. Es war ein Schock.“ Einen Monat nach der militärischen Invasion Russlands beschloss Daniil Russov, seinen Freiwilligendienst aufzugeben und stattdessen mit der Kamera den Krieg zu dokumentieren, so genau, wie es für jemanden möglich ist, der noch nie einen Krieg erlebt hat. Zwischen April und Juli bereiste er zusammen mit anderen Reportern sein Land. Er traf Menschen, die sich vor einem Luftschutzbunker Essen auf einer kleinen Feuerstelle kochten, begleitete eine Trauergemeinde während eines Begräbnisses, sah niedergebrannte Häuser, zurückgelassene Tiere.
Zum ersten Mal wurde der 25-Jährige mit dem Tod konfrontiert. Auf ukrainischer wie auf russischer Seite. Es ist das Bild eines russischen Soldaten, der von seinen Kameraden auf einem Feld liegen gelassen und dessen Körper von Tieren bis auf die Knochen gefressen wurde, das besonders erschüttert. Und trotz der Gräueltaten der russischen Armee Mitgefühl für dieses Schicksal weckt.
Ausstellung Hamburg: Deichtorhallen auf neuen Wegen
„Der Krieg ist die schrecklichste Erscheinung der Menschheit. Kein Film, kein Buch, kein Foto vermag es, das Grauen der gegenwärtigen Ereignisse zu vermitteln. Selbst die Menschen, die inmitten des Grauens leben, sind sich des damit verbundenen Schmerzes nicht bewusst, denn es wäre unmöglich damit leben zu können. Buchstäblich“, so die Fotografin Lisa Bukreieva, die mit ihrem textlich-visuellen Tagebuch „2402. War Diary“ dem Kriegsalltag in ihrer Heimatstadt Kiew begegnet.
Mit der Ausstellung „The New Abnormal“, die zwölf dokumentarische Positionen zum Krieg in der Ukraine präsentiert, betreten die Deichtorhallen neues Terrain. Noch nie reagierte man so schnell auf politische Ereignisse, war man so nah dran an menschlichen Schicksalen.
Kateryna Radchenko sammelte Bilder des Krieges
Für Kateryna Radchenko, Leiterin der Odesa Photo Days, war mit dem Beginn der Invasion klar, dass Ukraines einziges Fotofestival in diesem Jahr nicht stattfinden würde. Sie begann, die Bilder des Krieges zu sammeln, um sie mit der Welt zu teilen. Über die Hälfte der ausgestellten Fotografien wurde wegen Selbstzensur oder Zensur noch nicht in Medien veröffentlicht. Sie zeigen den ungefilterten, direkten Blick ukrainischer Fotografinnen und Fotografen auf einen Alltag, der von Zerstörung und Gewalt geprägt ist und der sie unweigerlich zu Kriegsfotografinnen und -fotografen macht. Ingo Taubhorn, Kurator im Haus für Photographie, reagierte prompt auf die Initiative seiner Kollegin und schlug während einer Zoom-Konferenz im März eine Kooperation mit den Odesa Photo Days vor.
Nach sechs Monaten Kriegsgeschehen seien viele Menschen in Europa ermüdet, in den Nachrichten nähme die Situation der Ukraine meist nur noch einen nachgeordneten Platz ein. „Doch das, was wir hier sehen, ist die harte Realität, wie sie jetzt gerade in diesem Land ist. Es ist das unmittelbare Geschehen, das die Künstlerinnen und Künstler einfangen und uns damit wachrütteln“, so Taubhorn. „Sie zeigen, was Krieg wirklich bedeutet.“
Nur die Kinder durften sich hinlegen
So wirken Nazar Furyks Aufnahmen von Bauten und Straßenzügen vor blauem Himmel zunächst harmlos – bis einem das Verkehrsschild aus Bucha ins Auge sticht: Mitten durch den symbolisierten Fußgänger wurden mehrere Kugeln geschossen. Gegenüber sind analoge Fotografien von Vladyslav Krasnoshchok gehängt, die die Betrachter schaudernd an Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern; auf einer liegt die einst prächtige Stadtkulisse von Charkiw in Trümmern. Die Fotografie erinnert daran, dass die Großstadt im Nordosten des Landes unter Dauerbeschuss steht, dass ein Verlassen der Wohnung, der Metrostation oder des Luftschutzbunkers jederzeit lebensgefährlich sein kann.
Deutlich wird diese beklemmende Atmosphäre in zwei Arbeiten von Mykhaylo Palinchak: Auf einer ist die Tür eines Bunkers von innen fotografiert. Darauf haben einige der Schutzsuchende mit ihrem Namen unterschrieben und die Tage gezählt, um das Gefühl für Zeit nicht zu verlieren. Eine weitere Fotografie direkt daneben zeigt, wie beengt die Menschen dort lebten – nur den Kindern war es erlaubt, sich zum Schlafen hinzulegen, alle anderen konnten lediglich sitzen.
Ausstellung Hamburg zeigt unvorstellbar Schreckliches
Über seine Serie „Sirens Whisper“ sagt der Fotograf: „Das Geräusch der Sirenen ist zum ständigen Begleiter geworden. Wir haben uns daran gewöhnt. Aber jeden Tag erinnert uns dieses Geräusch daran, dass wir bereits in einer neuen Welt leben.“
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„The New Abnormal“ beweist: Fotografinnen und Fotografen haben die Kraft und die Sprache, Unfassbares und unvorstellbar Schreckliches zu zeigen. Davon ist auch Kateryna Radchenko überzeugt. „Die Frage ist nur, ob das Publikum bereit dazu ist, ihre Bilder zu sehen.“
„The New Abnormal“ bis 6.11., Phoxxi (U Meßberg, Steinstraße), Deichtorstraße 1–2, Di–So 11.00–18.00, Sa 16.00 Kuratorinnenführung mit Künstlern, Eintritt 8,-/5,- (erm.), www.deichtorhallen.de