Hamburg. „Mittendrin“ zeigt, wo es für Menschen mit Behinderungen im Alltag oft schwierig wird – und dass jeder von Barrierefreiheit profitiert.
Ich möchte mir am Bahnsteig vor der Abfahrt einen Kaffee bestellen – klingt eigentlich ganz einfach, oder? Für Menschen mit Einschränkungen oder Behinderungen kann dieser alltägliche Vorgang aber schon etwas komplizierter werden. Wenn man zum Beispiel stark stottert, blind oder auf einen Rollator angewiesen ist. Wie gehen verschiedene Personen mit der Situation in der lauten Umgebung vor einem erhöhten Tresen um?
Gedankenspiele wie diese sollen Besucherinnen und Besuchern in der neuen Ausstellung „Mittendrin“ im sogenannten „Dialog Lab“ des Dialoghauses Hamburg zeigen, wo im Alltag überall Barrieren entstehen können. „Wir wissen, dass nur etwa vier Prozent der Behinderungen von Geburt an bestehen“, erklärte Kuratorin Annkatrin Meyer dazu am Donnerstag.
Ausstellung Hamburg: Barrierefreiheit hilft jedem
„Etwa 96 Prozent entwickeln sich also im Laufe des Lebens. Die Wahrscheinlichkeit, dass man in einer bestimmten Lebensphase auf Barrieren trifft, ist relativ hoch.“ Deshalb helfe Barrierefreiheit jedem. „Sie gibt uns die Sicherheit, dass wir auch in Zukunft am Arbeitsplatz oder dem öffentlichen Leben teilhaben können“, sagte Meyer.
Das „Dialog Lab“ ist eine Erlebnisausstellung: Auf Zetteln kann man eigene Ideen vermerken, mit einem Faden an der Wand seine persönlichen Eindrücke zu Einschränkungen im Alltag nachzeichnen oder sich an Schaubildern darüber informieren, wie gehörlose Menschen zum Beispiel Apps verwenden, um den Notruf zu betätigen – statt anrufen zu müssen. Auf großen Bildschirmen lassen sieben Protagonistinnen und Protagonisten den Besucher in Interviews an ihrer Sicht auf die Welt teilhaben.
Protagonist Andzejus ist gehörlos und arbeitet als Guide
Dabei sind Personen mit sichtbaren und unsichtbaren Einschränkungen: autistische und blinde, aber auch Menschen im Rollstuhl oder mit posttraumatischer Belastungsstörung. Protagonist Andzejus ist gehörlos und arbeitet selbst als Guide im Dialoghaus. Er sagte am Donnerstag: „Ich wünsche mir von den Besuchern, dass sie mehr Empathie entwickeln. Dass sie cool und offen bleiben. Dass es selbstverständlich ist, auf Personen mit unterschiedlichen Behinderungen zu treffen.“
Er selbst erlebe es oft, dass Hörende ihm gegenüber unsicher sind. „Ich versuche immer zu zeigen, dass man Gestik und Körpersprache einsetzen kann. Das können Hörende auch machen“, sagte Andzejus, „um diesen Moment des Augenöffnens geht es.“
„Dialog Lab“ soll selbst auch barrierefrei sein
Auch das „Dialog Lab“ selbst soll möglichst barrierefrei sein. Ein Buch im Eingangsbereich erklärt, welche Werkzeuge auch Besucherinnen und Besucher mit Einschränkungen nutzen können: Wenn man etwa den „sprechenden Stift“ an Kontaktpunkte in der Ausstellung hält, trägt er den entsprechenden Text laut vor. Lärmschutzkopfhörer sollen Personen aus dem Autismus-Spektrum helfen, einen Moment in Ruhe durchzuatmen, wenn es für sie zu viel wird.
Die Ausstellung „Mittendrin“ ist vorerst auf drei Jahre angelegt. Die Verantwortlichen am Dialoghaus möchten besonders Schulklassen und junge Besucher ansprechen, die hier um die 30 Minuten verbringen können. Und vielleicht auch Fragen äußern, die sie sich sonst nicht zu stellen trauen würden. Dafür führt das Team neben kurzen Befragungen auch intensivere Fokusgruppengespräche durch.
Dialoghaus Hamburg zieht um
Nach ersten Auswertungen im April will das Team dann mit der Vorbereitung von zwei weiteren Angeboten beginnen: Der „Dialog der Kinder“ soll sich in diesem oder im kommenden Jahr dem emotionalen und sozialen Lernen von Drei- bis Zehnjährigen widmen. Es soll zum Beispiel darum gehen, wie sich Empathie entwickelt. Der „Digitale Dialog“ steht für 2023/2024 an: Die Ausstellung könnte Utopien zu inklusiven Lebensräumen der Zukunft zeigen.
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Doch im Dialoghaus stehen noch größere Veränderungen an: Die Ausstellungen werden voraussichtlich ab 2027 nicht mehr am Standort am Alten Wandrahm zu sehen sein. Denn obwohl Inklusion hier eine zentrale Rolle spielt, gibt es im Gebäude selbst Probleme, wie Geschäftsführer Andreas Heinecke am Donnerstag erklärte: „Das Haus ist nicht barrierefrei, aber in hohem Maße sanierungsbedürftig.“
Ausstellung Hamburg: Dialoghaus will sich vergrößern
Es gibt zum Beispiel keinen Fahrstuhl. Mit dem Umzug soll sich das Haus insgesamt vergrößern und inhaltlich verbreitern: Am neuen, 6000 Quadratmeter großen Standort am Sandtorkai soll in fünf Jahren das weltweit erste „Social Science Center“ zu sozialen Prozessen entstehen, das neben den bisherigen Themen etwa auch die Folgen von Digitalisierung und Klimawandel für Minderheiten reflektieren will.
Die Neuauflage des Dialoghauses wird sich am Konzept von Frank Oppenheimers „Science Center“ – also Wissenschaftsmuseum – orientieren: „Er sagte, wer die Wunder der Natur versteht, zerstört sie nicht. Wir sagen: Wer die Wunder des Menschen versteht, grenzt sie nicht aus“, so Heinecke.