Hamburg. NDR-Chefdirigent Gilbert über seine Arbeit mit dem Residenzorchester der Elbphilharmonie, Weltklasse und seine Vertragssituation.
„Wir müssen das Gebäude mit Kultur, Musik und Schönheit füllen.“ Eine mächtig große Ansage, damals beim ersten Interview, als alles für ihn beginnen sollte, vor rund viereinhalb Jahren. Alan Gilbert war der „Neue“, der langjährige Erste NDR-Gastdirigent sollte nach seinem Job an der Spitze des New York Philharmonic als Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters dort weitermachen, wo sein Vorgänger Thomas Hengelbrock nicht mehr mochte und sehr sichtbar hingeworfen hatte.
Seitdem ist Gilbert als Wegweiser im Geschirr, er hatte zuerst drei tolle Jahre auf seinem Arbeitsplatz im Herzen des Großen Saals. Und danach zwei katastrophale. War im April mehrere Wochen schwer an Corona erkrankt und musste mitansehen, wie auch die Geburtstags-Feier seines Orchesters von der Pandemie ins Aus geschossen wurde. Etliche Streams, ständiges Umplanen. Krise in Dauerschleife. Per elbphilharmonischem Autopilot durch die Spielzeiten? Von wegen.
Alan Gilbert: Corona hat uns besser gemacht
Sein Fazit bis März 2020 beginnt dann auch mit dem Seufzer: „Ich wünschte, wir hätten unser normales Leben zurück...“ Corona sei im Italienischen das Wort für Fermate, diese Fermate sei für ihn und das Tutti riesig gewesen. Aber: „Wir hatten das große Glück, dass wir Proben und unsere künstlerische Beziehung intensivieren konnten. Corona hat uns gezwungen, zu fokussieren, was wirklich wichtig ist. Ich finde, dass das Orchester jetzt besser als je zuvor spielt, das Verständnis füreinander ist gewachsen. Der Große Saal hat sich als extrem flexibel erwiesen. Er wird immer besser und klingt schon jetzt eindeutig anders als vor fünf Jahren: wärmer, besser in der Klangmischung. Es ist genau das, was der Akustiker Toyota uns versprochen hat.“
Weil auch der Raum selbst so speziell ist, sei das Programm des Jubiläumskonzerts auch auf die räumlichen Möglichkeiten ausgerichtet. Zur Eröffnung im Januar 2017 wurde ein sehr bunter Teller vom Frühbarock bis zur Uraufführung präsentiert, jetzt steht ausschließlich Zeitgenössisches an, von Adams, Adès und Salonen. Der Gedanke, nah an der Entstehung immer neuer Musik zu sein, der gefällt Gilbert.
Zum Zeitpunkt dieses Gesprächs in seiner Garderobe, kurz vor einer Probe, war noch nicht klar, ob und wie der Abend des 11. Januar aussehen wird, klar war für Gilbert nur: „Wenn man einen Konzertsaal feiert, der für Menschen da sein soll, ohne dass dabei Menschen anwesend sein können, wäre das mehr als traurig. Es hätte weniger Bedeutung.“
Die Bedeutung der Elbphilharmonie für die Welt
Ein wichtiger Teil seiner Arbeitsplatzbeschreibung: sein Orchester weiter nach vorn und nach oben zu bringen. „Es spielt jedes einzelne Konzert mit extremem Einsatz“, lobt Gilbert, die gemeinsame Tournee vor einigen Monaten sei bestens gelaufen. „Wir verdienen die Aufmerksamkeit, die wir bekommen“, findet er, durchaus selbstbewusst. In den fünf Lebensjahres seines Orchester-Wohnsitzes sei die Elbphilharmonie eine der wichtigsten Klassik-Konzert-Adressen Europas geworden, wenn nicht sogar der Welt. „Ich habe große Ziele“, erklärt Gilbert. „Für mich klingt das Orchester unglaublich, es gibt einen großen künstlerischen Konsens und hoffentlich werden mehr und mehr Menschen sagen: Wow, das ist Weltklasse!“
Wie der Saal den Klangkörper konkret verändert hat? So einfach ist das nicht festzumachen, findet Gilbert. „Auf jeden Fall ist er Teil unserer Persönlichkeit.“ Danach wird er aber doch konkreter: „Die Klarheit des Klangs zwingt jedes Orchester, das hier spielt, wirklich genau hinzuhören. Das ist jetzt unser Alltag. Andere Säle sind da weniger nachtragend.“
Ob er selbst als Dirigent durch diesen Raum besser geworden ist? „Ich glaube, ich entwickle mich“, kommt als Antwort mit einem Schmunzeln zurück, „ich versuche es. Für mich ist Selbstkritik sehr wichtig und gerade in der Zeit der Pandemie habe ich mich aktiv selbst beobachtet. Im April hatte ich drei Wochen lang Corona, ich konnte drei Monate nicht arbeiten und war wirklich raus aus allem. Und ich bin tatsächlich, obwohl das so nach Klischee klingt, auch im übertragenen Sinne auf Abstand gegangen und habe mich gefragt: Warum mache ich das? Ich wollte noch ehrlicher mit meiner Art des Musikmachens sein.“
Elbphilharmonie-Publikum hat sich gewandelt
Die Wirkung des Großen Saals auf das Publikum? Keine kleine, findet Gilbert. „Zu Beginn kamen viele sicher aus Neugierde auf die Elbphilharmonie“, das habe sich gewandelt. „Besonders jetzt, während der Pandemie, kommen die Menschen zunehmend, weil sie genau dort, in diesem Konzert sein wollen. Das Publikum erwartet inzwischen ein sehr hohes künstlerisches Niveau, es gibt hier echte Begeisterung. Hamburg hatte immer schon sehr kundige Konzertgänger, ich komme seit über 20 Jahren hierher, jetzt ist das Publikum gemischter als früher. Die Programme haben damit zu tun – aber auch die Tatsache, dass dieser Saal für Exzellenz steht. Man weiß einfach, dass es ein interessanter Abend sein wird, egal, wer auftritt.“
Komponistinnen sind immer noch sehr seltene Ausnahmen in den Programmen, wer von der Bühne in das Saalrund blickt, sieht vor allem weißes, mittelaltes Bürgertum, auf den Programmen findet man vorwiegend tote weiße Männer. „Darüber denke ich ständig nach“, betont Gilbert. „Ich denke, wir haben bislang eindeutig zu wenig für Diversität getan. Als ich vor zwei Jahren darauf hinwies, war das im künstlerischen Betrieb Europas noch kein Thema. Jetzt ändert sich das, und es zwingt uns auch, darüber nachzudenken, was ein Orchester ist. Unsere Entscheidungen beeinflussen, wie Menschen Kunst und Kultur über die Musik hinaus wahrnehmen. Es geht nicht nur darum, wie wir für Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen attraktiv sein können, dass wir ihnen sagen, sie können zu uns kommen. Wir können ihnen auf diesem Weg auch entgegenkommen. Damit beginnen wir gerade, und ich hoffe, dass wir Fortschritte machen, die sich als gut und sinnvoll erweisen.“
Wie Gilbert die Leute überzeugen will
Zu den Besonderheiten der Corona-Jahre gehörten die pausenlosen Kurzkonzerte, die gleich zweimal an einem Abend in der Elbphilharmonie gegeben wurden. Sehr beliebt und dennoch inzwischen wieder raus aus dem Sortiment, auch beim NDR. Auch Gilbert ist nach wie vor Fan dieser Zwischengröße. „Ich finde, das ist ein sehr gelungenes Format“, sagt er, „sicher ist es immer einfacher, Gründe zu finden, warum man etwas nicht verändert. Aber: Es gibt keinen Grund, warum wir eine Veränderung wie diese nicht machen sollten.“ Pläne für andere neue Formate? „Ja, die gibt es. Aber jetzt müssen wir erstmal abwarten, was noch passiert.“
Zeit für eine Grundsatz-Frage: Hängen Orchester zu sehr an gelernten, geerbten Konventionen, sind sie mutig genug für das, was jetzt an Veränderung und Neuausrichtung ansteht? „Eindeutig nicht“, kommt sehr schnell von Gilbert zurück, und das gleich zweimal.
„Das ist ein Prozess, der wichtig ist, aber behutsam verlaufen muss, denn wir wollen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Und darüber reden wir kontinuierlich. Es ist tricky, denn ein System, das seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten existiert, hat seine Qualitäten. Und diese wollen wir erhalten. Gleichzeitig ist es jetzt wichtig, um out of the box zu denken. Oder für eine größere Box. Aber davon müssen viele Leute überzeugt werden, unter anderem auch die Musikerinnen und Musiker. Wenn man eine Vorstellung von seinem Beruf hat, und dann verlangt man von einem, anders über seinen Job zu denken, dann muss man reden. So etwas braucht Zeit. Das ist kein Kampf, sondern eine existenzielle Herausforderung. Und am Ende des Tages ist am wichtigsten, wie das Orchester spielt.“
NDR Elbphilharmonie Orchester lehnt Wettbewerb ab
Am Armdrück-Wettbewerb mit den anderen großen Hamburger Orchestern um den Platzhirsch-Pokal ist Gilbert eher nicht interessiert. „Wir sind das Residenzorchester und haben eindeutig ein besonderes Profil. Wenn der Wasserspiegel steigt, nimmt er jedes Boot mit. Dass Hamburg viele qualitativ hochwertige Ensembles hat, ist gut für die Stadt. Wir geben unser Bestes, und ich bin mir sicher, dass die anderen das auch tun.“
Zwischen dem Ex-Chefdirigenten Sir John Eliot Gardiner und dem NDR-Orchester ist das Tischtuch wohl unreparierbar zerschnitten, doch mit so ziemlich allen anderen Ex-Chefs ist man ausdrücklich und regelmäßig befreundet; sie alle kommen und lassen sich als inzwischen gerngesehene Gäste feiern. Für seinen Vorgänger Thomas Hengelbrock gebe es eine offene Einladung auf das NDR-Dirigentenpodest, berichtet Gilbert. „Ich verstehe mich sehr gut mit ihm, wir stehen in Kontakt und er ist uns nach wie vor willkommen…“
NDR Elbphilharmonie Orchester: Verlängert Gilbert?
Drei großartige und zwei größtenteils schreckliche Jahre liegen hinter Gilbert. Was für ihn nicht heißt, dass damit schon alle Ideen erledigt und alle To-do-Listen abgearbeitet wären. Reizvoll findet er, auch aus den pandemischen Erfahrungen heraus, Musik für kleinere Besetzungen, inklusive Haydn- und Mozart-Sinfonien. Barock. Bach-Kantaten. So was eben. Es gäbe zwar großen Druck, das Orchester in seiner ganzen Sollstärke zu präsentieren. Doch diese kleineren Formate findet Gilbert immens wichtig für Technik und Stil eines Orchesters. Wer Haydn könne, käme danach auch besser mit Tschaikowsky, Bruckner oder Strawinsky klar. Einige Opern-Ideen liegen gerade im Brutkasten. Mehr Abwechslung, mehr Vielfalt. Stay tuned.
Die Chefetagen von NDR und Elbphilharmonie werden sich demnächst mit der (noch nicht einmal leicht rhetorischen) Frage zu befassen haben, ob Gilberts Orchester seinen ersten Zehnjahresvertrag über den Residenz-Status verlängert. Bei der Frage nach seiner eigenen Vertragsdauer kommt Gilbert kurz ins Trudeln. Fünf Jahre? Man rede jedenfalls gerade darüber.
„Wichtig für das Orchester ist, dass es die Residenz inne hat. Ich würde liebend gern weitermachen – wir müssen nur dafür sorgen, dass alle Zutaten passen. Das Ganze nach fünf Jahren schon wieder enden zu lassen, das käme mir eindeutig nicht wie ein Erfolg vor.“ Ist er mit noch nicht fünf Jahren noch Chefdirigent oder schon auf dem Weg zur Ära? Gilbert amüsiert sich kurz und antwortet: „Ich bin Chefdirigent.“
- Konzerte: 11. / 12.1., jeweils 20 Uhr. John Adams „Tromba lontana“, „Short Ride in a Fast Machine”, Thomas Adès „Konzert für Klavier und Orchester” (Solist: Kirill Gerstein), Esa-Pekka Salonen „Wing on Wing“. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Der erste Abend wird als Livestream auf www.elbphilharmonie.de, www.ndr.de/eo und in der NDR EO App übertragen sowie von NDR Kultur live im Radio ausgestrahlt. Am 15.1. ist er um 22.45 Uhr im NDR Fernsehen zu sehen, im Anschluss an die Doku „Elbphilharmonie – Von der Vision zur Wirklichkeit“ (Beginn: 21.45 Uhr).