Salzburg. „Don Giovanni“ hatte Premiere. Teodor Currentzis dirigierte, Regisseur Romeo Castellucci hatte eigenwillige Ideen.

Irre Fragen, von denen man nie ahnte, dass man sie je beantwortet bekäme: Wie klingt es, wenn eine Luxuslimousine ohne jede Vorwarnung aus dem Bühnenhimmel auf den Bühnenboden des Großen Festspielhauses in Salzburg kracht? Und wie lang ist die Nachhallzeit der Trümmer, wenn man dieses Experiment wenig später mit einem Flügel wiederholt? Ziemlich beeindruckend das eine, erstaunlich lang das andere.

Die erste Hälfte der „Don Giovanni“-Premiere war randvoll mit derartigen Rätsel-Requisiten; jeden Moment konnte, musste, sollte man damit rechnen, dass das nächste Symbol als Handlungs-Fußnote von links, rechts oder oben spektakulär ins Bild kam. Noch vor der Ouvertüre wurde eine katholische Kirche auf der Bühne leergeräumt, der Glaube an den Himmel und also auch an jene Hölle, in die der Komtur am Ende den Schwerenöter abholen wird, kam schon vor dem ersten gesungenen Ton in den Stauraum der verbrauchten, verjährten Mythen.

Grandiose Licht-Effekte und edles Weiß

Wer 2016 bei Romeo Castelluccis Hamburger „Passione“ bestaunen durfte, wie er zu Bachs Matthäus-Passion einen liegenden Reisebus als größte Vergänglichkeits-Monstranz durch eine der Deichtorhallen schieben ließ, hatte nun ein üppiges Déjà-vu-Erlebnis.

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Dazu ein Gazeschleier als Weichzeichner vor dem Salzburger Breitwand-Panorama, grandiose Licht-Effekte, edles Weiß, reine Unschuld behauptend, und coole Aufgeräumtheit, um dem Publikum ein dekonstruiertes Tableau nach dem anderen zu kredenzen. Nobel Allegorisches (Dürers „Feldhase“!) und irgendwie Albernes (herabregnende Basketbälle?!) wechselten sich ab. Bilderflut, Ausstattungs-Orgie, wir haben’s ja.

Teodor Currentzis dirigierte Mozart gegen den Strich

Für den zweiten Anlauf zum 100. Festspiele-Geburtstag wurden erstmals zwei Publikums-Lieblinge vereint: Teodor Currentzis sollte hier auch diesen Mozart ungehörig gegen den Strich dirigieren – aber nicht die wohlfeileren Wiener Philharmoniker, sondern seine Music­Aeterna-Ensembles, die ihm jede Exzentrik-Idee geschmeidig von den lufttänzelnden Fingern ablesen können.

Romeo Castellucci, der sich an gleicher Stelle 2018 mit seiner packenden „Salome“-Deutung verewigt hatte, inszenierte dazu die verschwenderisch rausgehauenen Schauwerte und machte aus der Geschichte um das Lieben und Sterben eines reichen Mannes zunächst eine (garantiert brutal teure) Riesen-Show, in der das handelnde und singende Personal schmückendes Beiwerk war, da die Konzentration vom Musikalischen und der Handlung aufs Dauerdechiffrieren umgeleitet wurde.

Größtes Rollen-Pech hatte der Tenor Michael Spyres

Das mit Abstand größte Rollen-Pech hatte der bravourös sich verströmende Tenor Michael Spyres als Don Ottavio. Er hatte mit jedem Auftritt eine noch schwerere Arie zu bewältigen, das aber in immer abstruseren genderfluiden Kostümen, mal mit Extra-Armen vor der Brust, mal mit puscheligem Zierpudel an der Leine.

Weil alle Männer bei der Suche nach Triebabfuhr früher oder später, reicher oder ärmer, doch gleich sind, zeigte Castellucci den Adligen Giovanni (Davide Luciano) und seinen Diener Leporello (Vito Priante) wie siamesische Zwillinge: gleiche Statur, gleiche Anzüge, sehr ähnliche Stimmen, beide sehr ordentlich, aber nichts, was länger in Erinnerung bleiben würde.

Überraschendes auch bei der Musik

Und weil Castellucci nur ein Büro-Kopierer bei der Register-Arie als Metapher für die ewig gleiche Anmacher-Masche des Schürzenjägers offenbar nicht genügte, schwebte gleich ein zweiter hinab. Beim „Là ci darem la mano“-Duett vom Routinier Giovanni und seiner neuen Flamme Zerlina (allerliebst: Anna Lucia Richter) baumelte eine Totenkutsche als vorwarnendes Gegenstück zur Lebens-Lust neben den beiden, während Currentzis die Musik ins nahezu Softpornöse abbremste, jede Phrase, jede Note des Flirts sinnlich auskosten und gurren ließ.

Überhaupt, die Musik, auch dort gab es Überraschendes: Im Gegensatz zum arg wilden Galopp, den Currentzis bei seiner Salzburg-Premiere mit „La Clemenza di Tito“ veranstaltet hatte, benahm er sich nun deutlich gesitteter, aber auch erwartbarer daneben. Er ist nicht wild geblieben, sondern milder geworden und weniger selbstzweckprovokant. Nach wie vor aber genießt er es, an passenden Stellen das Tempo straff anzuziehen, um auszutesten, wie weit er gehen kann mit dieser eruptiven Ausdruckskraft. Kleine Show-Einlage: Als Giovanni zur Feier einlud, wurde der Orchestergraben kurz nach oben gefahren, Stroboskop-Lichter zwischen den Musikern machten auf Dorfdisko, trotzdem kam niemand aus dem Takt.

Doch diese Partitur-Stresstests blieben die Ausnahme; seine Glanzlichter setzte Currentzis geschickt in den leisen, innigen Momenten, indem er sie noch inniger und noch leiser machte, noch klangredender und empathischer. Dann wurde die übergroße Oper zum Lieder-Abend, dann öffneten sich die Seelen und das Herzblut wallte, rührend und verletzlich.

Nadezhda Pavlova soll im Februar in Hamburg singen

Für Federica Lombardi als Donna Elvira war der zweite Akt der dankbarere Teil des Abends. Übertrumpft wurde sie von Nadezhda Pavlova als Donna Anna, die ihren größten Auftritt ebenfalls dort hatte und ihre Koloraturen wie Goldstaub in die Bühnenluft verschenkte (im Februar hoffentlich ebenso, bei der „Giovanni“-Wiederaufnahme-Serie in der Hamburger Staatsoper).

Für diesen Teil hatte Castellucci vor allem eine Idee: 150 Salzburger Frauen und Mädchen als raffiniert choreografierten, stummen Bewegungschor ins Geschehen zu stellen, als Kommentar und Kontrast, Fleischwerdung von stolzer Kollektivkraft, aber nicht schon, wie man es erwartet hätte, als Nebenklägerinnen bei der Registerarie, sondern bei Elviras Anklage.

Letztes kleines Bilderrätsel

Mal war das eher kitschig, wenn sie sich, als wäre es ein Esoterik-Musical, in Pastellfarben um Singende klumpten; mal war es aber auch so beeindruckend wie in der Friedhofs-Szene, in der sie schwarzvermummt wie sturmzerzauste Trauerweiden wogten und archaisch raunten.

Der Komtur blieb im Showdown auf der Bühne unsichtbar, Don Giovanni wurde zu der stockfinsteren Musik dieser Szene vom Weiß des nicht mehr sakralen Raums übermalt, eingesogen, wie vom Erdboden verschluckt verschwand er dort. Zurück blieben für die Überlebenden ihre Abbilder als Gipsskulpturen, weiß und starr und leblos, als letztes kleines Bilderrätsel vor dem einhellig tosenden Premieren-Applaus.